Lebensmittelrettung á la française
Als erstes Land hat Frankreich ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung eingeführt. Doch das Vorzeigemodell wird mehr und mehr zum Spielball wirtschaftlicher Interessen. Kann Frankreichs Ansatz dennoch ein Vorbild für Deutschland sein?
Ob in der Landwirtschaft, in der Lebensmittelindustrie, in Restaurants, Supermärkten oder Haushalten: 59 Millionen Tonnen Lebensmittel landen in Europa jährlich im Müll. Und das, obwohl weltweit bis zu 783 Millionen Menschen nicht genug zu essen haben. Die Gründe zum Wegwerfen dafür sind vielfältig: Überproduktion, zu hohe Qualitätsstandards oder der falsche Umgang der Verbraucher mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum. Die Verschwendung belastet Wirtschaft und Umwelt enorm: 16 Prozent der Treibhausgase des EU-Lebensmittelsystems werden durch weggeworfenes Essen verursacht, zudem gehen jährlich Waren im Wert von bis zu 132 Milliarden Euro verloren, so eine Auswertung des EU-Parlaments. Die EU hat sich daher verpflichtet, die Verschwendung von Lebensmitteln bis 2030 zu halbieren.
Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung – ein Wegweiser
Frankreich ist Vorreiter, was dieses Ziel angeht: Bereits im Jahr 2016 hat die Nation ein Gesetz eingeführt, das Supermärkte und Händler verpflichtet, unverkaufte, aber noch genießbare Lebensmittel zu spenden, statt sie wegzuwerfen. Wer sich nicht daran hält, dem droht ein Bußgeld: Bis zu 0,1 Prozent des Jahresumsatzes können fällig werden. Gleichzeitig locken steuerliche Anreize: Unternehmen können 60 Prozent des Warenwerts gespendeter Lebensmittel von der Steuer absetzen. Das Gesetz hat eine Bewegung ausgelöst: Um die steigende Menge an Spenden zu verteilen, braucht es inzwischen zahlreiche Helfer. Diese haben sich landesweit zu gemeinnützigen Vereinen zusammengeschlossen.
Längeres Leben für Lebensmittel
Eine dieser gemeinnützigen Organisationen ist die Association Fruits & Légumes Solidarité (AFLS). Das Team um Leiter Fourat Troudi verhindert, dass Lebensmittel, die von den Händlern auf dem Großmarkt von Marseille nicht verkauft werden, im Müll landen. Jeden Morgen um sieben Uhr macht Troudi seinen täglichen Rundgang über den Markt, immer auf der Suche nach überschüssiger Ware. „Auch einige Großhändler helfen uns, indem sie uns ihr nicht verkauftes Obst und Gemüse spenden“, erzählt Troudi, der früher in der Lebensmittelproduktion und -verarbeitung für global tätige Konzerne gearbeitet hat.
Kartoffeln, Äpfel, Auberginen, Mangos oder Möhren werden aber nicht direkt verteilt, sondern vorher von AFLS verarbeitet. „Die meisten dieser Produkte sind noch verzehrbar, aber aufgrund ihres Zustand nicht mehr verkäuflich, da sie reif, beschädigt oder fleckig sind oder nicht der Norm entsprechen“, sagt Troudi. „Wir verarbeiten und verteilen sie und haben so einen Weg gefunden, ihre Haltbarkeit zu verlängern.“ In der AFLS-Werkstatt sortiert, wäscht, kocht, verpackt und etikettiert das Team die angenommenen Produkte. Da sie nicht wissen, was die Händler am jeweiligen Tag spenden, haben sie mehr als 250 Rezepte entwickelt, die sie, je nach Lieferung, spontan umsetzen. Ihr Engagement kann sich sehen lassen: Seit der Gründung 2021 haben Troudi und seine Mitstreiter knapp 300 Tonnen Lebensmittel zu Suppen, Kompotten, Säften und Brotaufstrichen verarbeitet.
Drei Viertel der Produktion gehen an verschiedene gemeinnützige Organisationen wie die französischen Lebensmittelbanken, das Pendant zu den deutschen Tafeln. Diese Banques Alimentaires verteilen die Mahlzeiten an Bedürftige. Das letzte Viertel verkauft AFLS an Supermärkte, um die Arbeit der drei festangestellten Mitarbeiter sowie 15 weiteren Helfer, die dadurch in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden, bezahlen zu können.
Europa zieht nach
Andere europäische Länder haben ebenfalls Maßnahmen gegen die Verschwendung von Lebensmitteln ergriffen: Tschechien verpflichtet Supermärkte, unverkaufte Nahrung an Hilfsorganisationen weiterzugeben – bei Verstößen drohen Strafen von bis zu 390.000 Euro. Italien setzt auf steuerliche Anreize, während die Schweiz seit 2023 neue Qualitätsnormen für Obst und Gemüse mit Schönheitsfehlern eingeführt hat, etwa für Karotten mit zwei Beinen oder krumme Gurken. Und Österreich fordert von Händlern mehr Transparenz über entsorgte und gespendete Lebensmittel durch eine vierteljährliche Berichtspflicht ein, damit die Lebensmittelverschwendung genau gemessen werden kann.
Deutschland setzt bislang vor allem auf freiwilliges Engagement: 23 Groß- und Einzelhandelsunternehmen wie Aldi, Lidl, Edeka und Rewe haben gemeinsam mit dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft einen Pakt gegen Lebensmittelverschwendung unterzeichnet. Die freiwillige Vereinbarung sieht beispielsweise vor, nicht mehr verkehrsfähige Lebensmittel künftig zu verwerten, Mitarbeitende zu schulen, Logistik- und Kühlketten zu optimieren und kurzlebige Waren durch Rabattaktionen schneller abzusetzen. Während der Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels den Pakt als Meilenstein bezeichnet, hält sich die Begeisterung bei Umweltorganisationen in Grenzen. Das Bündnis Lebensmittelrettung, dem unter anderem der WWF und die Deutsche Umwelthilfe (DUH) angehören, bezeichnet die Selbstverpflichtung als „stumpfes Schwert ohne rechtliche Sanktionsmöglichkeiten“.
Solidarität hat ihren Preis
Doch auch, wenn immer mehr Länder ihre unterschiedlichen Ansätze verfolgen, hat das französische Gesetz nach wie vor Vorbildcharakter. Allerdings stößt es trotz Verschärfungen derzeit an seine Grenzen: Während die Spenden der Einzelhändler an die französischen Lebensmittelbanken von 2016 bis 2019 um 39 Prozent stiegen, hat sich der positive Trend in letzter Zeit umgekehrt, berichtet Barbara Mauvilain, Leiterin der Abteilung Institutionelle Beziehungen der Lebensmittelbanken.
Der Grund: Einige Unternehmen nutzen die Regelungen als Geschäftsmodell. Statt nicht verkaufte Produkte zu spenden, versuchen sie nun, ihre Waren in letzter Minute stark vergünstigt an den Kunden zu bringen. So schaffen sie einen neuen Markt für Überschüsse, der die Überproduktion rentabel macht. „Unser Verein bekommt dadurch immer weniger Spenden und die Qualität der Produkte leidet“, kritisiert Troudi.
Hinzu kommen die wachsenden Herausforderungen durch inflationsbedingte Preissteigerungen etwa für Behälter, Strom und Reinigungsmittel, die den Druck auf kleine Projekte wie AFLS weiter erhöhen. Viele Initiativen stoßen an ihre Belastungsgrenzen. Damit sie ihre wichtige Arbeit fortsetzen können, braucht es vor allem staatliche Unterstützung für Fixkosten wie Miete und Energie sowie die Gehälter der Festangestellten. „Solidarität hat ihren Preis – ohne Subventionen können wir nicht weitermachen“, bringt es Troudi auf den Punkt.
Von Frankreich inspiriert
Das französische Modell zeigt, dass gesetzliche Vorgaben in Verbindung mit steuerlichen Anreizen nicht nur Verschwendung reduzieren, sondern auch soziale Probleme abfedern. Es zeigt aber auch, dass Regelungen allein nicht ausreichen. Sie müssen ständig an neue Entwicklungen angepasst werden, um wirksam zu bleiben.
Um die Lebensmittelverschwendung in Deutschland einzudämmen, fordern mehrere Organisationen, darunter die DUH, eine Kombination verschiedener Maßnahmen, wie sie in anderen EU-Ländern bereits umgesetzt werden. Darüber hinaus sind nachhaltige Ansätze entlang der gesamten Wertschöpfungskette und die Zusammenarbeit auf allen Ebenen notwendig – von der Politik über die Wirtschaft bis hin zu den Verbrauchern.
In Deutschland gibt es schon einige Akteure, die genau an diesen unterschiedlichen Punkten ansetzen: Das Unternehmen Querfeld bietet Kisten mit krummem Obst und Gemüse an, Apps wie Too Good To Go oder Foodsharing helfen Verbrauchern, überschüssige Lebensmittel zu retten und Bildungsprojekte wie Acker stärken das Bewusstsein für nachhaltigen Konsum.
79 Kilogramm
Lebensmittel landen pro Kopf in Deutschland im Müll.
Quelle: Statistisches Bundesamt
60 Prozent
der Lebensmittelabfälle entstehen in Haushalten.
Quelle: Statistisches Bundesamt
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