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„Wir haben den Respekt vor Lebensmitteln verloren.“

Text von Mia Pankoke
03.08.2022
Gesellschaft

Frisch vom Feld – in den Müll: 40 Prozent aller Lebensmittel landen im Abfall, und das oft schon während der Ernte oder noch im Schlachthof. WWF-Ernährungsexpertin Silke Oppermann Dräger erklärt, wie es zu dieser Verschwendung kommt und was man dagegen tun kann.   

Te:nor: Frau Oppermann, Sie arbeiten seit dem Jahr 2020für den WWF und haben sich lange mit den Themen Landwirtschaft, Ernährung und Klimaschutz befasst. Warum setzen sie sich gegen Lebensmittelverschwendung ein?

Silke Oppermann: Gemeinsame Mahlzeiten sind wichtiger Teil vieler Kulturen dieser Erde, und während die einen im Überfluss leben, sind noch immer über 700 Millionen Menschen weltweit unterernährt. Insbesondere in den Industrienationen vermisse ich manchmal den Respekt vor unseren Lebensmitteln und jenen, die uns damit versorgen.

Der WWF sagt, dass er eine Zukunft gestalten will, in der Mensch und Natur im Einklang miteinander leben. Was hat das mit Lebensmittelverschwendung zu tun?

Wenn man wirklich vom Acker bis zum Teller denkt, sind die Auswirkungen des Ernährungssystems auf die Umwelt gravierend. Es geht nicht nur darum, wo und wie wir Lebensmittel anbauen. Wir transportieren Obst, Gemüse und Fleisch, lagern, kühlen es und verarbeiten es weiter. Das hat Folgen für Klima und Umwelt. Allein 30 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen und 80 Prozent der Entwaldung gehen auf das Ernährungssystem zurück. Außerdem 70 Prozent des Verlustes der biologischen Vielfalt an Land und 50 Prozent in den Meeren. Umso trauriger, dass diese Schäden noch nicht einmal etwas bringen, weil 40 Prozent der Lebensmittel nie auf unseren Tellern landen. Wir müssen die landwirtschaftliche Produktion und unsere Gewohnheiten ändern. Daher sind die Verschwendung und der Umgang mit Lebensmitteln für den WWF ein bedeutsames Thema. Der WWF hat errechnet, dass allein in der Landwirtschaft 1,2 Milliarden Tonnen Lebensmittel im Jahr verloren gehen. Zum Vergleich: Das ist mehr als 3.600-mal das Gewicht des Empire State Buildings, das mehr als 330.000 Tonnen wiegt.

Kein Landwirt möchte seine Ernte wegwerfen. Warum kommt es trotzdem zu solch großen Verlusten?

Schuld sind hauptsächlich Preise und Handelsvorgaben. Dieses Frühjahr wurde das leider wieder deutlich, als Landwirte in Deutschland Erdbeeren und Spargel unterpflügen mussten. Der Handel war nicht bereit, die Erzeugerpreise zu zahlen, und die Bauern hätten mit der Ernte Verlust gemacht. Zusätzlich sind Landwirte oft vertraglich dazu verpflichtet, dass Obst und Gemüse bestimmten Vorgaben erfüllen. So gibt es zum Beispiel beim Freilandgemüse zusätzliche Qualitätskriterien vom Lebensmitteleinzelhandel, die die staatlich festgelegten oft übersteigen. Das sind aber Naturprodukte, die nicht perfekt geformt und immer in derselben Farbe aus dem Boden kommen. Jeder, der Gemüse im Garten oder auf dem Balkon pflanzt, weiß das. Damit im Supermarkt aber nur perfekte Exemplare liegen, müssen die Landwirte zu viel anbauen und bei der Ernte Kohlrabi und Salatköpfe aussortieren, die nicht die geforderte Form, Farbe oder Größe haben. Sie sind genauso essbar, werden aber untergepflügt, verfüttert oder in Biogasanlagen versenkt.

Ähnliches gilt auch für Tiere. Aus einer Anfrage der Grünen an das bayrische Umweltministerium geht hervor, dass jedes fünfte Schwein und jedes fünfte Rind schon vor der Schlachtung verendet – allein in Bayern sind das laut Umweltministerium fast eine Million Schweine und etwa 220.000 Rinder. Abgesehen davon, dass man sich solche Zahlen gar nicht vorstellen mag, wieso hält man an einer Praxis fest, die zu solchen Verlusten führt?

Das liegt daran, dass Fleisch im Handel so günstig ist. Viele Tiere verletzen sich, die Hygiene ist schlecht. Gleichzeitig sind die Tiere so gezüchtet, dass sie schnellstmöglich Fleisch ansetzen, dafür aber anfälliger für Krankheiten sind. Außerdem sind die Tiere oft durch den Transport oder die Verhältnisse in den Großschlachtereien gestresst. Die Verluste sind wirtschaftlich zu verkraften, weil die Viehhalter staatliche Unterstützung erhalten: In Deutschland jährlich mehr als 13,2 Milliarden Euro. Tierische Produkte fallen zum Beispiel unter den reduzierten Mehrwertsteuersatz von sieben statt 19 Prozent. Abgesehen davon, dass Massentierhaltung zur Lebensmittelverschwendung beiträgt, müssen wir uns fragen, ob wir zum Beispiel unsere Ackerfläche weiter auf diese Weise nutzen wollen.

Wie meinen Sie das?

Bleiben wir bei den Ackerflächen. Sie sind eine wertvolle Ressource, die uns nicht endlos zur Verfügung stehen. Wir müssen überlegen, ob es zukunftsfähig ist, Platz für Lebensmittel zu verschwenden, die nicht gegessen werden oder in der industriellen Massentierhaltung landen. Weltweit geht ein Drittel der Ackerfläche für Futtermittel drauf, in Deutschland sind es 60 Prozent bei der Getreideproduktion. Auch hier geht es nicht darum, überhaupt keine Nutztiere mehr zu halten, sondern darum wie und in welchen Mengen. In Maßen sind Weidetiere wichtig. In Freilandhaltung sorgen sie etwa auf Wiesen für das biologische Gleichgewicht. Doch die Massen, die den Fleischhunger unserer Ernährungsgewohnheiten stillen sollen, gehen nicht mit einer achtsamen Wiesenhaltung zusammen. Argentinien war früher bekannt für ziehende Rinderherden. Heute werden die Wiesen für die Produktion von Soja umgepflügt, mit dem das Vieh in engen Ställen gemästet wird. Wenn man sich dann ins Gedächtnis ruft, dass viele der Tiere vor der Schlachtung sterben und Fleisch bei der Weiterverarbeitung, in der Gastronomie und auch in Privathaushalten weggeworfen wird, ist das einfach nicht hinnehmbar.

Macht es wirklich einen Unterschied für Klimawandel und Artensterben, wenn weniger Lebensmittel im Müll landen?

Auf jeden Fall. Die Lebensmittelverschwendung ist eine sehr wirksame Stellschraube. Die Gesamtemissionen an Treibhausgasen für Deutschland lagen im Jahr 2021 bei 762 Millionen Tonnen. 38 Millionen Tonnen davon entstehen allein durch weggeworfene Lebensmittel. Das heißt völlig umsonst. Das zu ändern ist gar nicht so schwierig: Wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, dass krumme Möhren im Supermarkt liegen, dass es nicht alle Backwaren zu jeder Tageszeit gibt und dass ein Stück Fleisch etwas Wertvolles ist, glaube ich nicht, dass wir dadurch wirklich Lebensqualität einbüßen.

Sind sich die Verbraucher im Klaren darüber, welche Auswirkungen Käse, Wurst oder Avocado auf Umwelt und Klima haben?
Den Klimaaspekt haben die Menschen noch am ehesten im Kopf. Wenn es dann aber um den Wasserverbrauch, die Verschmutzung von Böden und Grundwasser oder den Verlust der Artenvielfalt geht, vergisst man schnell, was alles an einer kleinen Scheibe Wurst hängt. Das ist auch verständlich. Im Alltag ist es schwierig genug, gesunde Ernährung und steigende Preise unter einen Hut zu bekommen. Der Umweltaspekt gerät da leicht in den Hintergrund. Deshalb ist es so wichtig, Politik und Handel in die Verantwortung zu nehmen.

Soll künftig also nur noch krummes Biogemüse aus lokaler Produktion auf den Tellern liegen?
Es geht nicht darum, bestimmte Lebensmittel vom Speiseplan zu streichen, sondern unsere Gewohnheiten anzupassen und eine Sensibilität dafür zu schaffen, wie wertvoll Lebensmittel sind. Denn ihre Produktion hat nicht nur einen Preis im Supermarkt, sondern auch einen für unseren Planeten. Denken wir beim nächsten Käsebrot doch kurz darüber nach, welche Kuh die Milch gegeben hat, wie viel Wasser dafür verbraucht und wie viel CO2 ausgestoßen und wieviel Waldfläche für die Sojafütterung gerodet wurde.

Wie will der WWF so einen Bewusstseinswandel erreichen?
Wir zeigen zum Beispiel mit Studien, wie gravierend das Problem ist. Denn in einem System, in dem der Verlust in solchen Mengen normal ist, läuft etwas grundsätzlich schief. Außerdem zeigen wir, wie ein gesundes und nachhaltiges Ernährungssystem aussehen kann. Dafür machen wir Vorschläge zum achtsamen Umgang mit Lebensmitteln und einer umweltfreundlichen Produktion. Auf der WWF-Website gibt es zum Beispiel Wochenpläne mit umweltfreundlichen Rezepten. Egal, ob vegan, vegetarisch oder flexitarisch: Es ist für alle etwas dabei.

10 Millionen Tonnen
der in Deutschland jährlich weggeworfenen Lebensmittel könnten schon heute gerettet werden. Etwa durch verbessertes Management, nachhaltigere Marketingstrategien und veränderte Konsumgewohnheiten.
(Quelle: WWF)

77 Prozent
des Treibhausgas-Fußabdrucks unserer Ernährung machen tierische Erzeugnisse aus. Obst, Gemüse, Getreide oder Nüsse sind nur für 23 Prozent verantwortlich. 
(Quelle: WWF)

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