Zum Seiteninhalt springen Zur Fußzeile springen

Nachhaltige Stadtquartiere im Wandel

Text von Sina Hoffmann
23.10.2025
Nachhaltigkeit
Skovbrynet BaseCamp von Kragh & Berglund Landscape | © DronePixels

Skovbrynet BaseCamp von Kragh & Berglund Landscape, Foto: DronePixels

Die Entwicklung nachhaltiger Wohnviertel trägt dazu bei, lebenswerte und zukunftsfähige Städte zu gestalten. Te:nor stellt vier Beispiele aus verschiedenen Jahrzehnten vor, die zeigen, wie sich das Verständnis von Nachhaltigkeit im Laufe der Zeit verändert hat.

Klimawandel, soziale Ungleichheit und steigende Mieten setzen Städte unter Druck. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, setzen Stadtplaner auf die Entwicklung sozial und ökologisch nachhaltiger Quartiere. Tatsächlich ist der Ansatz nicht neu: Nach dem Bau eintöniger, dicht bebauter Nachkriegssiedlungen in den 1950er- und 1960er-Jahren wuchs das Interesse an lebendigeren und vielfältigeren Stadtvierteln. Das Konzept entwickelt sich seither stetig weiter. Projekte aus Amsterdam, Freiburg, Kopenhagen und Berlin – entstanden in unterschiedlichen Jahrzehnten – zeigen, welche Ideen sich bewährt haben und vor welchen Herausforderungen sie heute stehen.

GWL-Terrein Amsterdam: Pionier der autofreien Quartiere

Mit dem GWL-Terrein setzte Amsterdam in den 1990er-Jahren ein Zeichen: Auf dem Gelände eines ehemaligen Wasserwerks entstand eines der größten autofreien Quartiere Europas. Es gibt nur 100 Parkplätze, die an die insgesamt 1.800 Bewohner verlost werden. Wer leer ausgeht, nutzt Carsharing oder den eng getakteten ÖPNV. Das autofreie Konzept war für die damalige Zeit revolutionär: „In Deutschland praktisch unerhört und in den Niederlanden auch nicht selbstverständlich“, erklärt Stefan Werrer, Architekt und Professor für Städtebau an der FH Aachen.

Das Projekt war jedoch weit mehr als ein autofreies Quartier: Insgesamt 600 Wohnungen verteilen sich auf 17 Gebäude, die durch zwei markante Backsteinblöcke mit begrünten Dächern begrenzt werden. Im Inneren schaffen Grünflächen, freistehende Häuser sowie Spielplätze und autofreie Wege eine offene und sichere Struktur und bieten viel Raum für Aufenthalt und Begegnung. Die Mischung aus Sozialwohnungen und freiem Wohnraum sorgt für Vielfalt, gemeinschaftlich organisierte Gärten und Feste stärken den Zusammenhalt. Laut Statistik zählen die Einwohner des Viertels auch heute zu den zufriedensten in Amsterdam – ein Zeichen für die hohe Lebensqualität im Quartier.

Vauban ist bekannt für Partizipation, die ökologische und soziale Dimension werden viel stärker betont als bei der Entwicklung des GWL-Terrein
Stefan Werrer, Architekt und Professor für Städtebau FH Aachen

Ruurd Gietema, Partner im damaligen Planungsbüro KCAP, beschreibt die ursprüngliche Idee so: „Nachhaltigkeit stand vor allem für weniger Autoverkehr, bessere Energieeffizienz und mehr Grünflächen.“ Damit das Quartier auch künftig lebenswert bleibt, kommt es heute darauf an, die soziale Vielfalt zu erhalten, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Gemeinschaft und individuellem Freiraum zu schaffen und attraktive Mobilitätsangebote dauerhaft zu sichern.

Vauban in Freiburg: Nachhaltigkeit durch Bürgerbeteiligung 

Auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne entstand von 1998 bis in die frühen 2000er-Jahre das Freiburger Quartier Vauban. Hier prägten nicht die Stadtplaner, sondern die Bürger selbst das Viertel: Die Initiative Forum Vauban gründete eine Genossenschaft und entwickelte mit Experten ein nachhaltiges Konzept. Familiäre Baugruppen und Genossenschaften bauten Passiv- und Plusenergiehäuser, darunter international bekannte Projekte wie das Heliotrop – das erste Plusenergiehaus der Welt. Die Strategie in Freiburg: Holz aus dem Schwarzwald, Kalksandstein und Lehm ersetzten klimaschädlichen Beton. Schulen, Ärzte, Spielplätze, Gemeinschaftsgärten und Geschäfte liegen nah beieinander, sodass Bewohner kein Auto benötigen. „Vauban ist bekannt für Partizipation, die ökologische und soziale Dimension werden viel stärker betont als bei der Entwicklung des GWL-Terrein“, ordnet Professor Werrer ein.

Doch der ursprüngliche Gedanke droht, verloren zu gehen: Mit der internationalen Aufmerksamkeit sind die Wohnpreise stark gestiegen. Für viele der 5.500 Bewohner wird das Leben im Quartier immer schwerer bezahlbar. Verstärkt wird diese Entwicklung dadurch, dass Sozialbindungen für Mieten nach und nach auslaufen. Auch die Pkw-Dichte ist heute dreimal so hoch wie zu Beginn.

Basecamp Kopenhagen: Nachhaltigkeit als Lifestyle

Zwischen 2017 und 2020 entstand in Kopenhagen das Basecamp, eine Wohnanlage für Studierende und Senioren mit besonderer Architektur: Holzoptik, geschwungene Formen und Wege, die auf ein begehbares Dach mit Panoramablick und üppiger Bepflanzung führen. „Ziel war es, einen Raum zu schaffen, der sich an der Natur orientiert und in dem viele unterschiedliche Menschen zusammenkommen“, sagt Jonas Berglund vom Urban-Design-Büro Kragh & Berglund. Regelmäßige Events und Gemeinschaftsküchen fördern diesen Gedanken. „Hier herrscht immer eine lebendige und einladende Atmosphäre“, berichtet eine Bewohnerin in den überwiegend positiven Google-Bewertungen.

Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit standen bei der Planung des Basecamps gleichermaßen im Fokus: Die modulare Bauweise und recycelbare Materialien halfen, die vorgegebenen Baukosten von 75 Millionen Euro einzuhalten und zugleich ein energieeffizientes Gebäude zu schaffen. Solarmodule sorgen für grüne Energie, Regenwasser wird aufgefangen und Abluftwärme zurückgewonnen. Die besondere Architektur in Verbindung mit dem Nachhaltigkeitsgedanken bekam international Aufmerksamkeit durch Auszeichnungen wie den A´Design Award und den World Architecture Award.

Die Idee war, ein Quartier zu entwickeln, das soziale Mischung, ökologische Standards und urbane Lebensqualität von Beginn an zusammendenkt.
Gudrun Sack, Geschäftsführerin Tegel Projekt GmbH

In den Social-Media-Bewertungen finden sich jedoch auch kritische Stimmen: Hohe Mieten machen nachhaltiges Wohnen zum exklusiven Lifestyle. „Im Basecamp liegt der Fokus stark auf technischer Effizienz, weniger auf einem umfassenden Quartiersgedanken, was zu Zielkonflikten wie hohen Mieten führt“, erklärt Werrer.

Schumacher-Quartier Berlin: Holzbau im großen Maßstab

Das weltweit größte urbane Quartier in Holzbauweise soll ab 2026 auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tegel entstehen. Über 5.000 Wohnungen für mehr als 10.000 Menschen sind im Schumacher Quartier geplant, dazu Schulen, Kitas, Sportanlagen und viel Grün. Etwa 40 Prozent der Wohnungen werden gefördert, die Hälfte über landeseigene Gesellschaften vermietet. Fossilfreie Energie, klimaangepasste Flächen nach dem Schwammstadtprinzip und Kreislaufwirtschaft stehen im Fokus. „Die Idee war, ein Quartier zu entwickeln, das soziale Mischung, ökologische Standards und urbane Lebensqualität von Beginn an zusammendenkt“, so Gudrun Sack, Geschäftsführerin der Tegel Projekt GmbH.

Das Holz soll überwiegend von Kiefern aus Berliner Forsten stammen. „Bei der Verwendung von Holz als Baustoff muss stets die Frage der nachhaltigen Verfügbarkeit mitgedacht werden. Großprojekte dieser Art sollten zudem Lehren aus den Fehlern der verdichteten Nachkriegssiedlungen ziehen“, so Werrer. Großprojekte bringen zudem typische Herausforderungen mit sich: hohe Baukosten, lange Planung und unsichere Finanzierung.

Stadtentwicklung neu denken

Die Projekte machen deutlich, wie unterschiedlich Nachhaltigkeit verstanden und umgesetzt wird – eine Musterlösung gibt es nicht. „Jedes Quartier braucht eigene Antworten, die auf lokale Herausforderungen, Ressourcen, Baukultur und soziale Gegebenheiten abgestimmt sind“, sagt Werrer. Themen wie autofreie Zonen, Grünflächen und soziale Wohnformen waren schon in den 1990er-Jahren relevant – und sind es bis heute geblieben. 

Inzwischen rückt jedoch die Frage nach der Finanzierung von Grundstücken und bezahlbarem Wohnraum immer stärker in den Vordergrund. Sozialer Wohnungsbau stagniert seit Jahren, Sozialbindungen laufen aus und selbst die vorgestellten Quartiere bleiben von steigenden Mieten nicht verschont. „Nur wenn Klimaschutz, Bezahlbarkeit und soziale Nachhaltigkeit systematisch zusammen gedacht und umgesetzt werden, können Städte wirklich nachhaltig werden“, ist sich Experte Werrer sicher.

1,9 Millionen
bezahlbare Wohnungen fehlen in deutschen Großstädten.
Quelle: Hans-Böckler-Stiftung

30 Prozent
der CO2-Emissionen verursacht der Gebäudesektor in Deutschland.
Quelle: Umweltbundesamt

Ähnliche Artikel