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Noch mehr Netzwerke gegen die Einsamkeit

Text von Nadja Christ
13.06.2024
Gesellschaft

Immer häufiger sind Menschen einsam, aber überall gibt es Initiativen, um es ihnen ein bisschen leichter zu machen. Nach dem Blick auf ausgewählte Projekte in Deutschland geht es im zweiten Teil nun um Netzwerke in anderen Ländern der Welt.

Triggerwarnung

In diesem Beitrag geht es unter anderem um Depressionen und Suizid. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte seien Sie achtsam, wenn das bei Ihnen der Fall ist, oder lesen Sie diesen Beitrag nicht allein.

Jeder vierte Deutsche fühlt sich einsam. Zu diesem Ergebnis kommt die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention in ihrem Deutschland-Barometer Depression 2023, einer Befragung, die seit 2017 jährlich deutschlandweit durchgeführt wird. Die Erfahrung zeigt: Wer sich erst einmal einsam fühlt, zieht sich oft noch mehr von anderen Menschen zurück, isoliert sich, traut sich irgendwann gar nicht mehr aus dem Haus. Gut, dass es weltweit engagierte Bürgerinnen und Bürger, Vereine und Behörden gibt, die kreativ werden, um Mitmenschen aus dieser Einsamkeitsfalle zu befreien.

Belgien: Zentrum für Hilfe zur Selbsthilfe

Manche Menschen fühlen sich nicht mehr dazu in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Es fällt ihnen schwer, einen neuen Pass beim Amt zu beantragen oder bei psychischen Problemen nach Unterstützung zu fragen. Hier setzt das Welzijnsonthaal an, eine Sozialeinrichtung in Turnhout im Norden Belgiens. Seit dem Jahr 2017 können Anwohner dort kostenlose Hilfe bei Fragen rund um Wohnen, Pflege, emotionales Wohlbefinden, Beziehungen, Mobilität, Freizeit, Erziehung, Einkommen, Budget und Verwaltung finden. Jemand sucht einen Therapieplatz? Die Mitarbeitenden vermitteln Kontakte zu Ärzten oder Therapeuten und unterstützen bei Schreiben an die Krankenkasse. Ein anderer hat Angst vor dem Gang zum Facharzt oder zur Behörde? Die Leute von Welzijnsonthaal begleiten ihn dorthin. 

Zusätzlich bietet die Stadt Turnhout in einer kostenlosen App eine soziale Karte an. Dort können die Anwohner auf einen Blick erkennen, wo es Einrichtungen zur Kinderbetreuung gibt, wer psychologische Hilfe bietet oder wen man nach finanzieller Unterstützung fragen kann.

Schweden: Eine Kampagne ermuntert zum Hallo sagen

Grüßen Sie jeden, der Ihnen im Alltag auf der Straße oder im Supermarkt begegnet? Das haben viele der 76.000 Bürger der nordschwedischen Stadt Luleå im Jahr 2023 vier Wochen lang ganz bewusst gemacht. Für die Säg-hej!-Kampagne machte die Gemeinde groß Werbung: in den sozialen Medien, in der Lokalzeitung und mit einem Schild im Stadtzentrum. „Wir wollen ein freundliches und vereintes Luleå“, erklärt Anna Lindh Wikblad, Gemeindedirektorin der Stadt.

Während der Corona-Pandemie hatten Lockdown-Regelungen nicht nur soziale Beziehungen eingeschränkt, es gab auch fast keine Alltagsbegegnungen mehr. „Doch gerade das unverbindliche, kurze Hallo zwischendurch ist wichtig für unser Wohlbefinden“, erklärt Åsa Koski, Sozialstrategin in der Gemeinde Luleå und Projektleiterin der Kampagne. „Es ist natürlich keine Lösung für alles, aber ein Hallo kann einen großen Unterschied machen.“ 

Koski ist vor allem von der internationalen Resonanz überrascht: „Es war ein Medienerfolg mit einer unerwarteten Wirkung, nicht nur in Luleå, sondern weltweit.“ Die Kampagne aus der Provinz inspirierte Nachahmer in mehreren anderen Städten innerhalb und außerhalb Schwedens, in Unternehmen und an Schulen. Viele Menschen aus Luleå haben sich auch persönlich bei ihr gemeldet. „Es scheint, als ob die Kampagne etwas tief in den Menschen geweckt hat“, sagt sie. Sie habe mehrfach gehört: „Wir haben uns früher gegrüßt, warum haben wir das verloren?“ Für Herbst 2024 plant Koski mit ihrem Team ein weiteres Projekt. 

Australien: Gute Nachbarschaft ist viel wert

Auch die Australier wollen Einsamkeit bekämpfen, indem sie die Gemeinschaft stärken. Hierzu hat die Stadt Melbourne schon im Jahr 2003 den Neighbour Day ins Leben gerufen: Immer am letzten Sonntag im März finden Nachbarschaftsfeste in Gemeinden und Aktionen in Schulen und Behörden statt. Der Nachbarschaftstag verbreitete sich danach schon bald über den ganzen Kontinent. 

Die Macher messen regelmäßig durch Befragungen die Auswirkungen des Projekts. „Dabei kam heraus, dass 85 Prozent der Menschen ihre Nachbarn besser kannten, nachdem sie sich an der Kampagne beteiligt hatten”, erklärt die Kampagnenmanagerin Sam Robinson. Damit nicht genug: „63 Prozent der Befragten finden, dass sich ihre psychische Gesundheit dank der Aktion verbessert hat“, sagt sie. 

Inzwischen hat Relationships Australia den Neighbour Day zur fortlaufenden, ganzjährigen Aktion Neighbours Every Day weiterentwickelt. Aus einem einzigen Tag fürs Nachbarschaftliche wurde ein ganzes Jahr. Getreu dem Kampagnen-Titel: Nachbarschaft (ist) jeden Tag.

Vier weitere interessante internationale Projekte wider der Einsamkeit im Kurzporträt:

Thailand: Alles unter einem Dach

Das Kampung Admiralty ist Singapurs erster Gebäudekomplex, in dem fast alle öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen vereint sind. Das soll vor allem Älteren oder Menschen mit Behinderung den Zugang erleichtern. 

Frankreich: Wenn der Postbote klingelt

Die französische Post bietet älteren Kunden einen Senioren-Service an: Postboten liefern dann nicht mehr nur Postkarten oder Briefe, sondern kommen regelmäßig vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Dabei können die Kunden entscheiden, ob der Postbote einmal oder bis zu sechs Mal pro Woche klingeln soll.

Großbritannien: Einsamkeit wird nationale Aufgabe

Im Jahr 2018 wurde das britische Ministerium für Sport, Tourismus, Kulturerbe, Zivilgesellschaft und Gleichstellung um eine wichtige Abteilung ergänzt: Einsamkeit. Der zuständige Minister koordiniert unter anderem die Finanzierung von 120 Projekten gegen Isolation. 

Japan: Zweites Ministerium für Einsamkeit weltweit

Die japanische Polizeibehörde und das Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales verzeichneten 2021 einen erstmaligen Anstieg der Suizide nach elf Jahren. Mögliche Ursache: die Corona-Pandemie und damit verbundene Isolation und Einsamkeit. In der Folge hat die Regierung dem Ministerium für Sondermissionen die Funktion Einsamkeitsbekämpfung hinzugefügt. 

Hilfe bei psychischen Problemen

Wenn es Ihnen nicht gut geht, versuchen Sie mit anderen Menschen darüber zu sprechen – das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch anonyme Hilfsangebote. Ein Beispiel ist die Telefonseelsorge, die kostenlos und rund um die Uhr unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 erreichbar ist. Weitere Informationen, etwa zur E-Mail-Beratung oder zum Hilfe-Chat, finden Sie hier. In Notfällen wenden Sie sich bitte an die nächste psychiatrische Klinik oder an den Notarzt unter 112. 

Circa 17 Millionen
Deutsche lebten 2022 allein. Mit rund 20 Prozent liegt Deutschland deutlich über dem EU-Durchschnitt von 15,8 Prozent.
Quelle: Statistisches Bundesamt

43 Prozent 
der Deutschen wünschen sich mehr Kontakt zu Menschen. 
Quelle: Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention 

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