„Ungesunde Lebensmittel nicht mehr subventionieren“
Schokolade, Gummibärchen und Co: Jeder Deutsche konsumierte 2024 fast doppelt so viel Zucker, wie von Experten empfohlen. Die Folge: Immer mehr Menschen sind übergewichtig. Eine Anpassung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel könnte Abhilfe schaffen und sich positiv auf Gesundheit, Wirtschaft und Umwelt auswirken, zeigen verschiedene Studien. Ökonomie-Professor Tobias Effertz erklärt im Interview mit Te:nor, wie sich eine Steuerreform in Deutschland umsetzen lässt.

Herr Effertz, die Zahl der übergewichtigen Menschen steigt von Jahr zu Jahr weiter: 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen sind zu dick. Welche Folgen hat das?
Tobias Effertz: In Deutschland gibt es ein massives Problem mit Adipositas. Das stellt inzwischen auch eine enorme finanzielle Herausforderung für die Krankenkassen dar. Wenn die Gesundheitsleistungen nicht eingeschränkt werden sollen – was die zwingende Konsequenz wäre – muss die Politik an bestimmten Stellschrauben nachjustieren, zum Beispiel bei der Besteuerung bestimmter Lebensmittel.
In Ihrer Studie „Die Auswirkungen der Besteuerung von Lebensmitteln auf Ernährungsverhalten, Körpergewicht und Gesundheitskosten in Deutschland“ setzen Sie auf steuerliche Anpassungen, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Was war das Ergebnis?
Die Forschung zeigt, dass finanzielle Anreize das Verhalten der Menschen stark beeinflussen können. Ein Beispiel ist die Erhöhung der Tabaksteuer in den 2000er-Jahren. Damals ging die Nachfrage nach Tabakprodukten deutlich zurück. In meiner Studie ging es um die Frage, ob sich diese Erkenntnis auch auf ungesunde Lebensmittel – also Produkte mit viel Fett, Salz oder Zucker – übertragen lässt.
Und? Ist es möglich?
Ja, die Ergebnisse zeigen sehr deutlich, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung durch die Steueranpassung Gewicht verlieren und der Anteil adipöser Menschen sinken würde. Solche klaren Effekte lassen sich bei keiner anderen Präventionsmaßnahme, etwa einem Werbeverbot oder einer Lebensmittelampel, mit dieser Wirksamkeit belegen.
Wie hoch sollten die Steuern sein, damit sie erfolgsversprechend sind?
Die Herausforderung besteht darin, die richtige Balance zu finden: Einerseits müssen die Steueranreize spürbar sein, damit die Menschen überhaupt darauf reagieren. Andererseits dürfen sie nicht überzogen sein, denn eine zu starke Belastung führt schnell zu einer Ablehnungshaltung bei den Menschen. Daher habe ich verschiedene Szenarien entwickelt, die sich in der Intensität der Besteuerung unterscheiden. Zwei Szenarien stachen dabei besonders hervor: Eines sieht vor, dass die Mehrwertsteuer auf unverarbeitete Lebensmittel wie Obst und Gemüse vollständig entfällt, und das andere beinhaltet zusätzlich einen höheren Steuersatz von 29 Prozent für besonders ungesunde Produkte, wie stark zuckerhaltige Softdrinks. In beiden Szenarien werden ungesunde Produkte mit regulären 19 Prozent besteuert, und nicht wie bisher durch den ermäßigten Steuersatz von sieben Prozent stillschweigend subventioniert.
Welche Auswirkungen sind durch die Anpassung der Mehrwertsteuer zu erwarten?
Die Idee ist, dass weniger hochverarbeitete Lebensmittel konsumiert werden. Diese Produkte haben Eigenschaften, die Adipositas begünstigen: Sie weisen eine sehr hohe Energiedichte auf und sättigen kaum. Wer einen Teil dieser Produkte durch Obst, Gemüse und andere unverarbeitete Lebensmittel ersetzt, nimmt insgesamt weniger Kalorien auf und verliert an Körpergewicht. Das ist selbstverständlich ein schrittweiser Prozess, so wie der Weg hin zu Adipositas auch schleichend verläuft.
Welche weiteren Effekte haben höhere Steuern auf ungesunde Lebensmittel?
Wenn zum Beispiel Fleisch teurer wird und der Konsum dadurch sinkt, würde das mehrere positive Effekte haben: Zum einen würde weniger Fleischkonsum einen spürbaren Beitrag zum Klimaschutz leisten, da geringere Methan-Emissionen aus der Tierhaltung entstehen. Zum anderen könnte der höhere Preis als ein Signal für mehr Tierwohl dienen. Das wäre angesichts der oft sehr fragwürdigen Haltungsbedingungen in der Intensivlandwirtschaft grundsätzlich zu begrüßen.
Andere Länder wie Finnland, Ungarn, Dänemark, England oder Frankreich haben Abgaben wie Fett- oder Zuckersteuern in unterschiedlicher Höhe bereits vor vielen Jahren eingeführt. Welche Erkenntnisse lassen sich aus den Erfahrungen dort gewinnen?
Es zeigt sich zum Beispiel, dass es zu Ausweichreaktionen auf andere Produkte kommt, wenn solche Maßnahmen nur halbherzig umgesetzt werden. Das war zum Beispiel in Frankreich der Fall, wo die Steuern nur minimal angehoben wurden, oder in Großbritannien, wo die Softdrink-Steuer erhebliche Lücken aufweist. Die Hersteller passen die Zutatenliste ein wenig an, der Staat nimmt mehr Steuern ein, doch der gewünschte Gesundheitseffekt ist nur schwach. Ein interessantes Beispiel ist Dänemark: Dort hat die Fettsteuer tatsächlich zu einer Verhaltensänderung geführt und der Konsum dieser Produkte ging zurück. Leider hat die Folgeregierung die Fettsteuer ein Jahr nach der Einführung aufgrund hoher Verwaltungskosten und politischer Opportunität wieder abgeschafft.
Warum wurde die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel in Deutschland bisher nicht angepasst?
Die aktuelle politische Stimmung ist sicherlich ein Hindernis für solche Maßnahmen. Ein großer Teil der Bevölkerung lehnt alles ab, was nach Verbotskultur klingt. Dabei müssen die Menschen endlich verstehen, dass diese Anreize hin zu einem besseren Lebensstil in ihrem eigenen Interesse sind und ihre Gesundheit fördern. Niemand will den Menschen verbieten, Chips oder Süßigkeiten zu essen. Kinder dürfen weiter naschen, Erwachsene weiter snacken. Nur eben bewusster. Wer einmal Pizza selbst gebacken hat, weiß, dass sie viel besser schmeckt als Fertigprodukte voller Zusatzstoffe – und am Ende sogar günstiger ist.
Wie zuversichtlich sind Sie, dass sich an der Ernährungspolitik in Deutschland etwas ändert?
Ich bin überzeugt, dass wir einen Wandel schaffen können, wenn wir bereit sind, uns darauf einzulassen. Dafür braucht es einen echten Paradigmenwechsel: Die Bundesregierung sollte die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger stärker in den Fokus rücken, so wie es für einen modernen Staat sinnvoll ist. Ich bin sicher, dass sich in den kommenden Jahren etwas in diese Richtung bewegen wird. Spätestens dann, wenn die Gesundheits- und Sozialkosten nicht mehr tragbar sind.
Zur Person
Tobias Effertz ist Privatdozent an der Fakultät für Betriebswirtschaft mit Fokus auf Public Health und Health Economics an der Universität Hamburg. Schon im Jahr 2017 veröffentlichte er eine Studie, die zeigte, dass eine Besteuerung von ungesunden Lebensmitteln und die Steuerbefreiung von Obst und Gemüse zu einer gesünderen Ernährung führen und Krankheitskosten senken könnte. Auch heute setzt sich Effertz weiterhin für das Thema ein.
63 Milliarden Euro
betragen die gesamtgesellschaftlichen Kosten von Adipositas in Deutschland pro Jahr.
Quelle: Universität Hamburg
3,8 Milliarden Euro
Krankheitskosten könnten innerhalb von einem Jahr nach Umsetzung der Steueranpassungen eingespart werden.
Quelle: Tobias Effertz, Universität Hamburg

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