Ein Dorf für Menschen mit Demenz
Foto: Resource Database, Unsplash
In den Niederlanden zeigt ein ungewöhnliches Pflegeheim, wie Menschen mit Demenz ein nahezu normales Leben führen können. Auch in Deutschland stößt das Konzept auf Interesse.
Weltweit leben laut Weltgesundheitsbehörde WHO rund 57 Millionen Menschen mit Demenz. Bis 2050 könnte die Zahl auf fast 140 Millionen steigen. Angesichts dieser Prognosen stellt sich die Frage, wie die Gesellschaft und vor allem wie Medizin und Pflege darauf reagieren sollten. In den Niederlanden entstand aus diesen Überlegungen heraus ein ungewöhnliches Konzept: De Hogeweyk ist Nachbarschaft und Pflegeheim zugleich.
Mehr Leben, weniger Therapie – trotz Demenz
Ein älterer Mann und eine junge Frau betreten gemeinsam den Supermarkt. Heute stehen Waschmittel, Putzzeug und Lebensmittel auf ihrer Einkaufsliste. So weit, so normal, mag der flüchtige Beobachter denken. Doch weit gefehlt, der alte Herr ist nämlich dement. Oft vergisst er, was er gerade erledigen wollte. Orientierung fällt ihm schwer, vor allen in ungewohnter Umgebung. Dann hilft ihm seine Begleiterin, eine Pflegefachkraft, weiter. Regelmäßig kaufen die beiden gemeinsam ein. So steht der ältere Mann mit ihr an der Supermarktkasse, wartet geduldig, bis sie dran sind. Dann scannt er die Artikel und packt ihren Einkauf in Tüten – wie damals, als er noch zuhause wohnte. „Solche Szenen sind hier ganz normal“, sagt Eloy van Hal. Gemeinsam mit Yvonne van Amerongen und Janette Spiering gründete er im Jahr 2009 das Pflegeheim der besonderen Art. Heute leben in De Hogeweyk mehr als 180 Menschen mit fortgeschrittener Demenz.
„Bei uns sollen Seniorinnen und Senioren ihr Leben mit täglichen Aktivitäten und ihren Freiheiten weiterführen können“, erklärt van Hal die Philosophie der Einrichtung. Deshalb ist De Hogeweyk wie ein kleines Dorf gestaltet. Häuser begrenzen das Gelände nach außen hin, die Eingangstür ist bewacht. Innerhalb des Areals sind Restaurant, Café, Reparaturservice, Friseur, Theater, Musikraum und verschiedene kleine Sportstätten durch beschilderte Wege miteinander verbunden. In einem Event-Büro können die Bewohnerinnen und Bewohner Mitgliedschaften in bis zu 35 verschiedenen Clubs abschließen. In Musik-, Back- oder auch Mal-Clubs treffen sie dann Menschen mit ähnlichen Interessen und schließen Freundschaften.
Leben mit Demenz – alles wie damals
Rund um den Platz mit Springbrunnen und zwischen Gärten stehen insgesamt 27 Wohnhäuser, in denen bis zu sieben Menschen zusammenwohnen. „Das wuselige Treiben in einem normalen Zuhause, Musik und der Geruch nach Essen vermitteln den Menschen Routine und Stabilität“, erklärt van Hal. Mithilfe eines Fragebogens werden sie auf Basis ihrer Interessen und Lebensweise zusammengebracht. So gibt es Wohngruppen, die etwa den traditionellen niederländischen Lebensstil aufgreifen. Eine andere wiederum legt Wert auf ein vornehmes, gediegenes Ambiente. Einrichtungen und Speisepläne orientieren sich damit an jener Lebensweise, die die Menschen früher führten und an die sie sich trotz der Demenz häufig noch erinnern können. Ein traditionelles Haus ist zum Beispiel mit dunklen Möbeln oder gemusterten Tapeten im Stil der 1970er-Jahre eingerichtet, sogar die Klobrillen sind schwarz – wie früher.
Jede Wohngemeinschaft wird tagsüber von einer ausgebildeten Altenpflegekraft betreut. Morgens und abends unterstützt sie ein Home Supporter, der über keine medizinische Pflegeausbildung verfügt. Die beiden organisieren den Haushalt und motivieren die Bewohnerinnen und Bewohner, Aufgaben zu übernehmen. Wer helfen möchte, kann sich beteiligen: Kartoffeln schälen, Einkaufen gehen, Wäsche sortieren. „Jeder sollte die Aufgaben erledigen, die er noch machen kann“, sagt van Hal. Vertrauen und vor allem Zutrauen ist die Basis des gemeinsamen Alltags. „Pflegekraft und Home Supporter wissen genau, wenn eine Person in der Lage ist, heißen Tee einzuschenken. Sie trauen es ihr zu – und lassen sie gewähren“, sagt van Hal. Apropos Zutrauen: Einen klassischen Nachtdienst gibt es nicht. Die Wohngruppen können unter anderem durch Sensoren überwacht werden. Die Nachtschicht betritt die Räume nur bei Bedarf.
Wie genau sich dieser Lebensstil auf Demenz-Erkrankte auswirkt, lässt sich nicht klar beziffern, so van Hal. Doch die positiven Effekte seien spürbar: „Unsere Bewohner sind weniger gestresst oder angespannt als jene in herkömmlichen Pflegeheimen. Sie wirken einfach glücklicher – vielleicht, weil sie sich so frei bewegen, immer wieder eine Aufgabe übernehmen können und miteinander in Kontakt kommen.“
Umdenken in der Demenzpflege
Von Anfang an erfährt das Konzept große Aufmerksamkeit. „Viele Kolleginnen und Kollegen haben sich an uns gewendet und wollten mehr über De Hogeweyk erfahren“, erinnert sich van Hal. In den Niederlanden sorgte es sogar für einen Sinneswandel im Pflegebereich: „Früher wurde dem Pflegepersonal nur beigebracht medizinisch korrekt zu pflegen“, sagt van Hal. „Heute lernt es, dass gemeinsames Kochen, Waschen und auch gemeinsame Aktivitäten zum Arbeitsfeld dazugehören.“
Das Interesse an De Hogeweyk geht weit über die Niederlande hinaus. Van Hal und seine Mitgründerinnen beraten Interessierte deshalb mit ihrer eigens gegründeten Beratung Be Advice. „In Italien, Norwegen, Australien, Neuseeland, Kanada und in der Schweiz wurden Konzepte von De Hogeweyk inspiriert“, sagt van Hal. So auch in Deutschland: Beispielsweise orientierte sich das Pflegeheim Tönebön am See in Hameln an dem niederländischen Vorbild.
Demenz-Station: Freiheit versus Schutz
Nicht jeder steht dem Konzept von De Hogeweyk vorbehaltlos gegenüber. Der dort gelebte Freiheitsgedanke stößt mitunter auf Skepsis. Manche finden es etwa gefährlich, dass sich die Menschen mit Demenz eigenständig über das Gelände bewegen können. Sie fürchten zum Beispiel, dass sie in den Springbrunnen fallen könnten. „Menschen mit Demenz sind aber nicht dumm“, so van Hal. „In normal gestalteten und wiedererkennbaren Umgebungen verhalten sie sich auch so normal wie jeder andere.“
Van Hal und seine Mitgründerinnen wollen den Gedanken von Selbstbestimmung sogar noch weiter ausbauen. „Wir müssen die Eingangstür zur Nachbarschaft öffnen“, fordert van Hal. Bisher war der Ausgang des Geländes verschlossen. „Aber kann man Menschen mit Demenz wirklich gegen ihren Willen einschließen, obwohl sie nichts falsch gemacht haben?“, fragt er. Damit spricht er ein zentrales ethisches Thema in der Pflege an. Seit 2020 regelt das niederländische Gesetz „Wet zorg en dwang“, dass Freiheitsbeschränkungen bei Dementen nur zulässig sind, wenn sie mit ihren Aktivitäten eine Gefahr für sich oder andere darstellen. Das Management von De Hogeweyk diskutiert aktuell, wie und ob die Öffnung sicher gestaltet werden könnte. Denkbar wäre es, dass Pflegekräfte desorientierte Personen begleiten oder dass die Spaziergänge außerhalb von De Hogeweyk mit Hilfe elektronischer Geräte überwacht werden.
Bis eine praktikable Lösung gefunden ist, wird es wohl noch etwas dauern. Dennoch hat van Hal eine Vision, die noch viel weiter trägt: Städte und Dörfer sollen so an die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz angepasst sein, dass sie länger in ihrer gewohnten Umgebung leben können. Wer sehr pflegebedürftig ist und sein Zuhause verlassen muss, soll seinen Alltag in einem Pflegeheim weiterführen können, zum Beispiel „in einem De Hogeweyk 3.0, das besser geworden ist durch all die Lehren der vergangenen 20 Jahre“.
7 Prozent
aller Todesfälle im Jahr 2023 gingen auf eine Demenzerkrankung zurück.
Quelle: Statistisches Bundesamt
83 Milliarden Euro
betragen die Kosten für Demenz für Deutschland im Jahr 2020.
Quelle: Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V.
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