Ich höre dich
Mit neunen Jahren erkrankt Veronika Wolter an Hirnhautentzündung. Es beginnt ihr Kampf gegen den Hörverlust – und gegen Vorurteile. Er endet 2022 mit der Gründung einer Hörklinik und der Leitung der Klinik für Hals-Nase-Ohren-Heilkunde am Helios Klinikum München West. Heute ist sie weltweit die einzige gehörlose Chefärztin.
Am 25. Oktober 2005 beginnt für Veronika Wolter eine neue Zeit. Die 23-Jährige ist die dritte Patientin in der Welt, der ein vollimplantierbarer Gehörknöchelchen-Stimulator eingesetzt wird. Das US-amerikanische Carina-Implantat verstärkt das Restgehör und ersetzt die verhassten Hörgeräte. Sie ist begeistert, gilt als Vorzeigeprobandin. Immer wieder wird sie eingeladen, um potenziellen Investoren von ihren Erfahrungen zu berichten. Die Euphorie bekommt einen Dämpfer, als sich Probleme mit dem implantierten Akku einstellen. Eine erneute Operation verschlechtert ihr Restgehör. „Ich kam so nicht mehr zurecht“, sagt sie heute. Der Weg führte zurück zu den Hinter-Ohr-Geräten und dem Ohrpassstück für den Gehörgang. Und zur Tatsache, dass sie trotzdem nicht gut hören kann.
Nur zu gut erinnert sie sich an die verunsicherte Neunjährige. Als die Viertklässlerin nach einer Hirnhautentzündung wieder zur Schule geht, ist nichts mehr wie vor der Erkrankung. „Alles klang plötzlich dumpf.“ Dem Unterricht kann die frühere Einserschülerin nur noch schwer folgen. Bei Diktaten erfindet sie Satzenden. Eine Lehrerin regt an, das Gehör überprüfen zu lassen. Die Diagnose ist niederschmetternd: bis zu 70 Dezibel Hörverlust.
Hörgeräte unter den Haaren versteckt
Es ist damals eine andere Zeit als heute, mit weniger Empathie für ein leidendes Kind. Mitschüler und Lehrer reagieren verständnislos auf ihr schlechtes Gehör, stellen sie gnadenlos bloß. In den folgenden Jahrzehnten wird sie ihre Schwerhörigkeit verheimlichen und die Hörgeräte unter den Haaren verstecken. „Trotz des Mobbings habe ich mich geweigert, auf eine Sonderschule zu wechseln.“ Geschwister und Eltern, allen voran ihre Mutter, unterstützen sie nach Kräften.
Da ihre Gehörgänge sehr eng sind, entzünden sich die Ohren oft. „Es juckte so unerträglich, dass ich mich blutig gekratzt habe.“ Analoge Hörgeräte funktionieren wie Lautsprecher. Töne werden lauter, aber nicht deutlicher. „Der Klang ist furchtbar. Zu hören wird zur Tortur.“ Veronika Wolter gleicht die an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit durch unzählige Stunden hinter Büchern aus. Wird zur Außenseiterin. In ihr reift der Entschluss, Ärztin werden zu wollen.
„Anfangs war die Arbeit im OP das Schwierigste, auch mit Implantaten. Der Mundschutz verhinderte, dass ich von den Lippen lesen konnte, und manche Kollegen drehten die Musik sogar noch auf.“
„Noch heute bin ich fassungslos, dass etliche Spezialisten nicht bereit waren, über Hilfen auch nur nachzudenken“, sagt sie. Bei einer Studienberatung in Heidelberg wird sie gefragt, ob ihr klar sei, dass Arzt ein kommunikativer Beruf ist. „Sie prophezeiten, dass ich kein Studium schaffen werde.“ Inklusion ist zu dieser Zeit ein Fremdwort. Sogar an Kliniken.
2009 tritt Veronika Wolter eine Stelle als Assistenzärztin der Medizinischen Hochschule Hannover und dem zugehörigen Deutschen Hörzentrum an. Als das Carina-Implantat nicht mehr funktioniert, muss sie sich als hörgeschädigt outen. Daraufhin weigern sich Kollegen, mit ihr nachts den Hintergrunddienst zu übernehmen und stellen ihr einen Assistenzarzt an die Seite. „Die ganze Nacht versorgte ich reibungslos Patienten. Der Kollege schlief, und ich hatte sogar Zeit, einen Vortrag für die Frühbesprechung vorzubereiten.“ Die Zulage bekam trotzdem der Kollege.
Aber mit den Hörgeräten zu telefonieren, bleibt kritisch. Die Arbeit auf der Krebsstation mit Patienten, die Tumore im Kopf-Hals-Bereich haben und deshalb akustisch nur schwer zu verstehen sind, zeigt ihr Grenzen auf. Soll sie sich auf Bereiche konzentrieren, in denen sie keinen Kontakt zu Patienten hat? Ein Vorgesetzter legt ihr diesen Schritt nahe. Doch sie weigert sich.
Im Hörzentrum in Hannover lernt sie ertaubte Kolleginnen und Kollegen kennen, die mit sogenannten Cochlea-Implantaten gut hörten. Ein Cochlea-Implantat (CI) ist eine Innenohrprothese, die die Funktion der Hörschnecke (Cochlea) übernimmt, wenn diese geschädigt oder vollständig taub ist.
Eine Stimme, die wie Micky Maus klingt
Zunächst sträubt sie sich. „Mein Restgehör zu riskieren, fiel mir unsagbar schwer.“ Monatelang beschäftigt sie sich mit der Funktionsweise von Cochlea-Implantaten. Und entscheidet sich schließlich für die Operation. Das Erste, was sie nach der OP hört, ist eine Stimme, die sich anhört wie Micky Maus. „Ein Cochlea-Implantat ist etwas völlig anderes als ein Hörgerät. Eine Neuroprothese, die das Innenohr ersetzt und mich über den Hörnerv hören lässt. Das Gehirn muss erst umsetzen, was es hört, und das bedeutet üben, üben, üben.“ Da Veronika Wolter acht Jahre lang normal gehört hat, erinnert sich ihr Gehirn nach und nach wieder. Die Technikabhängigkeit bewegt sie jedoch dazu, auch die Gebärdensprache zu lernen. Zur Sicherheit.
„Anfangs war die Arbeit im OP das Schwierigste, auch mit Implantaten. Der Mundschutz verhinderte, dass ich von den Lippen lesen konnte, und manche Kollegen drehten die Musik sogar noch auf.“ Erst Markus Suckfüll, Chefarzt an der Martha Maria Klinik in München, erkennt das Potenzial der jungen Assistenzärztin. 2012 war das. Ganz unkompliziert klemmt er sich ein Mikrofon an den Mundschutz, das mit ihren Cochlea-Implantaten verbunden ist. Sieben Jahre später übernimmt sie die ärztliche Leitung des Hanseatischen Cochlea Implantat Zentrums der Asklepios Kliniken Hamburg. „Mein Mann stammt aus dem Norden, und wir wollten zurück.“
Inzwischen hat die Fachärztin für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde sehr konkrete Vorstellungen davon, wie Unterstützung für Hörgeschädigte aussieht. Sie lässt Akustikpaneele an die Wände montieren, gründet ein Netzwerk aus CI-Akustikern und will in Absprache mit den Krankenkassen die Nachsorge verbessern. Und stößt auf Widerstand. „Es gibt Männer, die können es nicht ertragen, wenn neben ihnen Macher existieren. Schon gar nicht, wenn es eine jüngere Frau ist.“
„Wenn du weitermachst, stellt Mama die Ohren aus.“
Doch Veronika Wolter lässt sich nicht aufhalten. Im Juli 2022 wird sie Chefärztin in der Helios Hörklinik. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Cochlea-Implantaten. Zudem ist sie Chefärztin im Kollegialsystem für HNO-Heilkunde am Helios Klinikum München West.
Inzwischen liegt ihr Hörvermögen bei 100 Prozent. Sie kann problemlos telefonieren und Meetings mit mehreren Leuten trotz Nebengeräuschen leiten. Auch zu Hause ist ihre Gehörlosigkeit kein Thema. Als Mutter hat sie manchmal sogar Vorteile davon. „Wenn mein Sohn es zu bunt treibt, sage ich ihm, wenn er so weitermacht, stellt Mama die Ohren aus.“ Sie genießt es, mit dem Rennrad direkt in den Sonnenaufgang Text Stefanie Terschüren zu fahren. „Ich höre die vielen Vögel. Höre genau, welcher jetzt zwitschert und wo er ist. Das wäre ohne meine Implantate völlig außerhalb meiner Welt.“
Betroffenen will Veronika Wolter das Leben erleichtern. „Ich selbst hatte keine Vorbilder.“ Mit ihrem Buch „Ich höre Dich“ und der Öffentlichkeitsarbeit will sie das ändern und nicht nur anderen Ärztinnen und Ärzten Mut machen. Im Alltag sei das gar nicht so schwer. Oft reiche ein Satz: „Leute, sagt es einfach noch mal. Lauter, deutlicher und ohne genervten Unterton!“
Dieser Artikel ist zuerst in Character erschienen, dem Gesellschaftsmagazin der Bethmann Bank. Weitere Informationen zur aktuelen Ausgabe finden Sie auf unserer Webseite.
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