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Auf der Suche nach der gerechten und lebenswerten Stadt

Text von Nadja Christ
23.09.2025
Gesellschaft

Wie lässt sich Stadtplanung gerecht gestalten? Im Interview erklärt Dr. Stephanie Bock vom Deutschen Institut für Urbanistik, welche Bedürfnisse in der Stadtentwicklung oft zu kurz kommen und wie Städte inklusiver für alle Bevölkerungsgruppen werden können.

Frau Dr. Bock, Sie forschen seit vielen Jahren zur gerechten und nachhaltigen Stadtplanung. Was bedeutet Gender Planning konkret – und warum brauchen wir es?

Stephanie Bock: Gender Planning ist ein Ansatz, der die unterschiedlichen Bedarfe von Bevölkerungsgruppen in der Stadtgestaltung in den Blick nimmt. Wer nutzt den öffentlichen Raum auf welche Weise? Wer bewegt sich wie durch die Stadt? Es geht dabei nicht nur um Frauen, sondern um alle Gruppen, die im klassischen Planungsprozess oft übersehen werden, also zum Beispiel auch um Senioren, Menschen mit Behinderung oder Alleinerziehende. Öffentliche Institutionen vermeiden den Begriff zunehmend, weil das Wort Gender im öffentlichen Diskurs schnell polarisiert. Das Ziel bleibt aber: eine inklusive und gerechte Stadt für alle.

Welche Bedürfnisse oder Perspektiven übersehen Stadtplaner besonders häufig? 

Oft werden die leisen Stimmen nicht ausreichend gehört, etwa die von Mädchen, älteren Menschen, Menschen mit Behinderung, Obdachlosen oder Frauen mit Migrationsgeschichte. Ihre Bedürfnisse unterscheiden sich: Mädchen wünschen sich beispielsweise geschützte Aufenthaltsorte, Seniorinnen barrierefreie Sitzgelegenheiten, obdachlose Frauen sichere und kostenfreie Toiletten. Häufig fehlt es an gezielter Beteiligung am Planungsprozess und an Ressourcen, um diese Gruppen einzubeziehen. Oft dominieren deshalb diejenigen die Prozesse, die laut und gut organisiert sind – und die sind meist männlich, mittelalt, akademisch gebildet. Die Vielfalt der Lebensrealitäten spiegelt sich selten in den Ergebnissen wider.

Immer wieder ergreifen Städte Maßnahmen, um bestimmte Gruppen – etwa Jugendliche – aus öffentlichen Räumen fernzuhalten, zum Beispiel durch Lautsprecher mit Störgeräuschen. Was halten Sie davon?

Das halte ich für den falschen Weg. Solche Maßnahmen verdrängen nur bestimmte soziale Gruppen, ohne die Ursachen anzugehen. Öffentlicher Raum gehört allen, auch Jugendlichen oder Obdachlosen. Störgeräusche oder unbequeme Bänke schränken letztlich alle ein. Wir brauchen vielmehr gesellschaftliche Lösungen, die Teilhabe ermöglichen, und nicht solche, die den Ausschluss organisieren.

Werfen wir einen Blick in andere Länder: Gibt es dort Ansätze einer gerechten Stadtplanung, die sich von den deutschen Konzepten unterscheiden?

Im Kern gibt es kaum Unterschiede. Entscheidend ist immer der politische Wille und wie kontinuierlich solche Konzepte verfolgt werden. Ein aktuelles Beispiel aus Deutschland ist der Umbau einer Unterführung in Koblenz, den Studentinnen angestoßen haben – mit einem besonderen Fokus auf Sicherheit und Zugänglichkeit. In Koblenz und anderenorts ist entscheidend, dass gute Planung die vielfältigen Bedürfnisse aller Bevölkerungsgruppen berücksichtigt. Ganz gleich, ob sie ausdrücklich als Gender Planning bezeichnet wird oder nicht.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Welche Weichen sollten Städte heute stellen, um in Zukunft wirklich für alle lebenswert zu sein?

Eine gerechte Stadt braucht lebendige Begegnungsräume und eine faire Verteilung des öffentlichen Raums. Hierfür müssen wir noch stärker auf die meist ungehörten Stimmen hören und Zugänge schaffen, damit sie sich einbringen können. Hinderlich sind oft nicht nur fehlende finanzielle Mittel, sondern auch Machtstrukturen und Lobbyinteressen. Am Ende ist Gender Planning immer auch eine politische Frage: Es geht um die gerechte Verteilung von Raum und Teilhabe in der Stadt.

Im Folgenden kommentiert Stadtplanungsexpertin Dr. Stephanie Bock für Te:nor fünf interessante Gender-Planning-Projekte aus verschiedenen Ländern. 

© Marcus Sielaff
Foto: Marcus Sielaff

Schweden

Im Årstidernas Park in Umeå entstand 2016 mit Frizon ein Treffpunkt für Jugendliche, gestaltet von jungen Mädchen aus der Gemeinde. Hängeschaukeln, Wlan und Musik laden zum Verweilen ein. Es gibt sogar Steckdosen zum Aufladen der Smartphones. Viel Licht und eine zentrale Lage schaffen ein sicheres Umfeld.

Bock: „Aufenthaltsräume in der Öffentlichkeit für bisher weniger präsente Gruppen zu gestalten bereichert den öffentlichen Raum in besonderem Maße und verbessert im Ergebnis die Aufenthaltsqualität für alle.“

Österreich

Die Stadt Wien gestaltete den Einsiedlerplatz und den Bruno Kreisky Park 2001 um: Neue Wege, offene, gut einsehbare Flächen zum Spielen und Verweilen sowie bessere Beleuchtung stärken besonders die Präsenz von Mädchen im öffentlichen Raum.

Bock: „Wenn sich Mädchen auf Plätzen und in Parks wohl und sicher fühlen, profitieren auch andere Bevölkerungsgruppen davon. Offene und angenehme Orte laden viele unterschiedliche Menschen zum Aufenthalt ein.“

Hängematten im Bruno Kreisky Park in Wien | © BV Margareten
Hängematten im Bruno Kreisky Park in Wien
Foto: BV Margareten

Dänemark

Superkilen im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro ist ein Park der Vielfalt: Alltagsobjekte aus mehr als 60 Ländern – von marokkanischen Bänken bis zu japanischen Mülleimern – spiegeln die Kulturen der Nachbarschaft wider und laden Menschen aus aller Welt zur Begegnung ein.

Bock: „Diesen Park habe ich als einen ganz besonderen Ort erlebt: urban, lebendig, vielfältig und offen. Dies zeigt sich vor allem an den unterschiedlichen Menschen, die sich hier aufhalten. So sollte öffentlicher Raum genutzt werden.“

Superkilen in Kopenhagen, Dänemark | © Sophia Bergholm
Superkilen in Kopenhagen, Dänemark
Foto: Sophia Bergholm

Deutschland

Der Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf hat eine Frauensporthalle ausgebaut. Gute Erreichbarkeit und eine ansprechende Raumgestaltung, die Geselligkeit und Kommunikation fördern, ermöglicht es Mädchen und Frauen im geschützten Rahmen zu trainieren.

Bock: „Geschützte und nur bestimmten Gruppen offenstehende Räume sind kein Widerspruch zu einer Stadt für alle. Vielmehr bieten sie als unverzichtbare und wichtige Ergänzung Mädchen und Frauen Freiräume, in denen sie sich ausprobieren können.“

Singapur

Die Building and Construction Authority (BCA), eine Behörde des Ministeriums für nationale Entwicklung, setzt seit 2006 mit dem Universal Design Masterplan neue Maßstäbe: Öffentliche Gebäude, Wege und Parks werden so gestaltet, dass Menschen jeden Alters barrierefrei am Stadtleben teilhaben können.

Bock: „Design für alle ist ein wichtiger Baustein einer Stadt für alle. Was selbstverständlich erscheint, muss jedoch in vielen Fällen mühsam eingefordert und durchgesetzt werden. Gender Planning und damit die gendergerechte Stadt sind ein Weg, dieses Ziel zu erreichen.“

© Capital Spring
Foto: Capital Spring

24 Quadratmeter
öffentliche Grünfläche sollten jeder Person für Erholung, Bewegung und soziale Begegnung idealerweise zur Verfügung stehen.
Quelle: Bundesamt für Naturschutz

230 Hektar
groß sind alle öffentlichen Spielplätze in Berlin zusammengerechnet. Die Stadt erfüllt damit ihr selbstgesetztes Ziel, jedem Einwohner einen Quadratmeter Spielplatzfläche zur Verfügung zu stellen, zu rund 60 Prozent.
Quelle: Berlin.de

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