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Gammeln erlaubt!

Text von Nadja Christ
03.07.2025
Gesellschaft

In einem Seniorenheim in Marl bestimmen Menschen mit Demenz ihren Alltag selbst. Es gibt keine festen Essenszeiten, keinen Zwang zur Körperpflege. Das Konzept ist unkonventionell – und überraschend erfolgreich.

Demenz gilt als eine der größten Herausforderungen für unsere alternde Gesellschaft. Allein in Deutschland leben rund 1,8 Millionen Betroffene. Diese Zahl könnte bis 2050 auf 2,7 Millionen Menschen ansteigen, prognostiziert das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). Mit steigender Zahl der Pflegebedürftigen wächst der Druck auf Senioren- und Pflegeeinrichtungen, den Bedürfnissen dementer Menschen gerecht zu werden. Ein Pflegeheim der Arbeiterwohlfahrt in Marl, Nordrhein-Westfalen, hat einen neuartigen Pflege-Ansatz in die Tat umgesetzt – mit erstaunlichen Ergebnissen für Bewohner und Mitarbeitende.

Gammel-Oase: alles kann, nichts muss

Morgens um acht Uhr ein Schnittchen, gegen zehn ein paar Erdnussflips vor dem Fernseher, am Nachmittag ein Eierlikörchen auf dem Sofa. In der Gammel-Oase, eine der insgesamt sieben Wohnbereiche im Julie-Kolb-Seniorenzentrum in Marl, bestimmen die 14 Bewohnerinnen und Bewohner ihren Alltag selbst. Es gibt keinen Weckdienst, keine festen Essenszeiten, keinen Waschplan. „Eigentlich gibt es gar keinen Alltag“, erklärt Stephan Kostrzewa. Er ist examinierter Altenpfleger und promovierte 2021 in Medizin im Bereich Palliative Care. 

Kostrzewa entwickelte das Pflegekonzept Therapeutisches Gammeln, das die Gammel-Oase seit Mai 2023 umsetzt. Pflege ist hier ein Angebot, kein Muss. Wer heute nicht gewaschen werden will, wird morgen wieder gefragt. Oder übermorgen. Denn Zwang ist für Kostrzewa gleichbedeutend mit Gewalt. „Stattdessen setzen wir auf Vertrauen, Würde und eine Prise Anarchie.“

Neuer Pflegeansatz: Betreuung statt Kontrolle

Das war anfangs auch für die Pflegekräfte ungewohnt, haben sie doch nun wieder mehr Zeit für ihre eigentlichen Tätigkeiten und die Bewohner. „Hier darf ich endlich so pflegen, wie ich es für richtig halte“, hört Kostrzewa oft und beobachtet, dass Mitarbeitende, die in klassischen Einrichtungen an ihre physischen und psychischen Grenzen kamen, in der Gammel-Oase wieder aufblühen. Die Abläufe bestimmen die Bewohnerinnen und Bewohner, nicht die Dienstpläne. Das heißt auch: Schichten starten später, gegessen wird, wenn man Hunger verspürt, Körperpflege wird im Laufe des Tages mehrfach angeboten. Was für Außenstehende wie Verwahrlosung wirken könnte, ist für Kostrzewa ein Ausdruck gelebter Selbstbestimmung. 

Weniger Medikamente, mehr Mensch

Und auch im medizinischen Bereich geht das Seniorenzentrum einen anderen Weg. „Ungefähr 85 Prozent der Pflegeheimbewohner in Deutschland haben chronische Schmerzen“, sagt Kostrzewa. Doch nur 40 Prozent bis 50 Prozent der Betroffenen erhalten eine Schmerztherapie. „Der Rest wird mit Psychopharmaka behandelt, um aggressives Verhalten und Wutausbrüche in den Griff zu kriegen. Dabei sind das nur Symptome ihrer wahren, körperlichen Schmerzen.“ In der Gammel-Oase konnten bei 80 Prozent bis 90 Prozent der Bewohner Psychopharmaka abgesetzt oder drastisch reduziert werden. Dafür erhalten sie häufiger individuell abgestimmte Schmerztherapien. Das Ergebnis: Die Seniorinnen und Senioren blühen auf, werden aktiver und bewegen sich mehr. Steigt da nicht auch das Risiko für Stürze? „Selbstverständlich“, sagt Kostrzewa, „aber was ist die Alternative? Fixierung? Das ist keine Option, weil sie den Menschen ihre Würde und Freiheit entzieht.“

Das Pflegemotto: einfach mal machen lassen

„Die Bewohnerinnen und Bewohner fordern keine Pflege ein – sie fordern Aufmerksamkeit“, berichtet Kostrzewa. Und die bekommen sie. Ob im Gespräch auf dem Sofa, beim Beobachten des Treibens oder beim gemeinsamen Essen. Die Mahlzeiten sind bewusst als soziale Ereignisse gestaltet. Neben ausgewogenen, gesunden Mahlzeiten gibt es jederzeit alles, was sonst noch schmeckt: von Schokolade über Chips bis zu Eierlikör. Die Küche liefert dadurch zwar zwanzig Prozent mehr Essen als in den anderen Wohnbereichen, dafür wirft die Gammel-Oase im Vergleich deutlich weniger Lebensmittel weg.

Der Alltag ist unberechenbar, aber genau das ist Teil des Plans. Gruppenangebote? Fehlanzeige. „Die Menschen mit fortgeschrittener Demenz wechseln ständig zwischen orientierten und desorientierten Phasen“, erklärt Kostrzewa. Er weiß: „Geplante Aktivitäten greifen da oft ins Leere.“ Stattdessen gibt es Kramkisten, Sofas, Decken, Kissen – eben alles, was Gemütlichkeit und Begegnung ermöglicht. Das kostet nicht viel. Die eigentliche Investition liegt in der Schulung der Mitarbeitenden, im Coaching und in der kontinuierlichen Begleitung des Konzepts, so der Erfinder des Therapeutischen Gammelns.

Zwischen Skepsis und Neugierde

Das Interesse an diesem alternativen Pflegeansatz ist groß: Träger, Heimleitungen und Fachkräfte aus der ganzen Bundesrepublik kommen zur Besichtigung. Doch viele schrecken zurück, wenn sie erkennen, wie radikal er ist. Zudem ist das Konzept nicht für alle Beteiligten geeignet. In Marl zum Beispiel haben zwei Pflegekräfte gekündigt, weil sie die Regie über die Abläufe nicht an die Bewohner abgeben konnten. Doch schon gibt es erste Nachahmer: Eine zweite Gammel-Oase hat im Februar 2025 im benachbarten Herten eröffnet. Auch im Julie-Kolb-Seniorenzentrum ist eine weitere Gammel-Abteilung in Planung. Langfristig soll sogar das gesamte Seniorenzentrum umgestellt werden.

Drei Fragen an …

… Emrah Düzel, Sprecher des DZNE-Standorts Magdeburg und Professor für Kognitive Neurologie an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg.

Was sind die größten Herausforderungen in der Alzheimer-Forschung?

Düzel: Alzheimer beginnt oft Jahrzehnte vor der eigentlichen Demenz. In dieser Zeit wirken viele verschiedene Krankheitsmechanismen im Gehirn zusammen – darunter Entzündungen, Durchblutungsstörungen und Proteinablagerungen. Aus diesem Grund gibt es nicht das eine Medikament gegen Alzheimer.

Welche Rolle spielen Biomarker bei der Diagnose?

Düzel: Biomarker sind essenziell, um die Krankheit früh und zuverlässig zu erkennen. Bislang bestimmen wir die Biomarker in der Hirnflüssigkeit, die wir aus dem Rückenmark der Patientinnen und Patienten entnehmen. Künftig wird das über eine Blutprobe beim Hausarzt möglich sein – eine echte Revolution in der Alzheimer-Diagnostik.

Der Wirkstoff Lecanemab gilt als Hoffnungsträger in der Alzheimer-Forschung. Warum?

Düzel: Lecanemab ist ein Antikörper, der Amyloid-Plaques im Gehirn abbauen kann. Auf diese Weise verlangsamt es die Erkrankung um etwa 30 Prozent. Das ist schon jetzt ein großer Fortschritt. Ich gehe davon aus, dass wir diese Zahl im Laufe der nächsten fünf bis zehn Jahre noch deutlich erhöhen können.

445.000 Menschen
(ca.) älter als 65 Jahre erkrankten in Deutschland 2023 neu an Demenz. 
Quelle: DZNE

1,3 Billionen Euro 
kostete Demenz die Weltgemeinschaft 2019 – inklusive Ausgaben der Pflege- und Krankenkassen sowie der unbezahlten Angehörigenpflege. 
Quelle : DZNE

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