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„Microgreens darauf geben – und genießen“

Text von Jasmin Oberdorfer
19.12.2024
Unternehmen

Microgreens sind junge Pflanzen, die wenige Tage nach dem Keimen geerntet werden. Silke Wehrle von Berlin Farms erklärt im Interview die Vorzüge der grünen Kraftpakete und das Prinzip Indoor-Vertical-Farming.

In der gehobenen Gastronomie nutzen Köche Microgreens gerne zur optischen Aufwertung ihrer Gerichte. Aber die jungen Pflanzen sind doch sicherlich mehr als nur Dekoration?

Silke Wehrle: Die Keimlinge sind besonders reich an Nährstoffen und damit eine hervorragende Alternative zu Nahrungsergänzungsmitteln. Sie enthalten in konzentrierter Form Vitamine, Mineralstoffe, sekundäre Pflanzenstoffe und weitere gesundheitsfördernde Substanzen. Beispielsweise stecken in Rotkohl-Microgreens bis zu sechs Mal mehr Vitamin C und 40 Mal mehr Vitamin E als in ausgewachsenem Rotkohl. Die hohe Nährstoffkonzentration kommt daher, dass die Zellen bei Keimlingen besonders aktiv sind und Nährstoffe in hoher Dichte speichern. Microgreens sind also definitiv mehr als nur Deko für ein Gericht. 

Was spricht neben der hohen Nährstoffdichte noch für Microgreens? 

Mit ihnen kann ich mich ohne viel Aufwand gesund ernähren. Ich schaffe es zeitlich vielleicht nicht, jeden Tag frisch zu kochen, aber ich kann mir schnell ein Brot mit Microgreens machen. Weitere Vorteile sind der lokale Anbau mitten in der Großstadt und die kurzen Transportwege. Dazu muss man wissen: Viele Lebensmittel verlieren durch Transport und Lagerung Nährstoffe. Das ist bei unseren Produkten kein Thema – sie werden in der Erde verkauft und der Kunde erntet die Keimlinge erst direkt vor dem Verzehr. 

Welche Pflanzen eignen sich?

Besonders gut funktionieren Gemüsesorten wie Brokkoli, Radieschen und Erbsen sowie Senf und Rucola, die durch die enthaltenen Senföle sehr intensive Aromen mitbringen. Nachtschattengewächse wie Tomaten, Gurken oder Auberginen sollte man nicht verwenden, das Blattgrün der Keimlinge enthält Solanin, eine bitter schmeckende, schwach giftige Substanz.

Berlin Farms liegt mitten in der Großstadt. Wie funktioniert Landwirtschaft in diesem urbanen Umfeld?

Wir bauen auf kleinstem Raum an und nutzen dazu Übersee-Schiffscontainer, die darauf ausgelegt sind, eine konstante Temperatur und Luftfeuchtigkeit zu halten. Ein 40-Fuß-Container hat eine Grundfläche von 27 Quadratmetern. Mithilfe von Regalsystemen mit fünf bis sechs Ebenen erweitern wir diese Fläche auf 100 Quadratmeter, die wir für den Anbau unserer Microgreens nutzen können.

Ein großer Vorteil des Indoor-Farmings gegenüber der klassischen Landwirtschaft ist die automatische Bewässerung im Kreislaufsystem: Einmal täglich bekommen die Pflanzen für eine begrenzte Zeit Wasser. Die Keimlinge nehmen genau die Menge auf, die sie benötigen. Das restliche Wasser fließt wieder ab, wird aufgefangen und wiederverwendet. So sparen wir im Vergleich zu herkömmlichen Anbaumethoden bis zu 95 Prozent Wasser. Wir kommen auch komplett ohne Düngemittel aus und benötigen keinerlei Pestizide, da die typischen Gefahren, die im Freiland auftreten, also zum Beispiel Pilze oder Parasiten, in der geschützten Indoor-Umgebung nicht existieren.

16,35 Milliarden Euro
beträgt der globale Markt für Indoor-Farming-Technologien Schätzungen zufolge im Jahr 2027.
Quelle: Marketresearch.com

Für die Microgreenzucht zu Hause: Kresseigel 2.0 – so werden Sie zum smarten Minigärtner
Eine Tonschale in Igeloptik oder ein Teller mit Watte – so züchtete man früher Kresse auf der heimischen Fensterbank. Heute funktioniert das smarter, beispielsweise mit dem Garten-Vollautomaten von Ingarden: Das Anzuchtsystem besteht aus einer Keramikschale, drei Saatplatten und einer Edelstahlkonstruktion mit LEDs. In die Saatplatten kommen Samenpads, die mit Wasser übergossen werden. Mithilfe einer Zeitschaltuhr lässt sich der optimale Lichtzyklus einstellen. Schon nach fünf bis acht Tagen kann die Ernte beginnen.

Andere Anbieter setzen auf Substrate aus Kokosnussfasern oder Hanfpads. Warum wachsen die Keimlinge bei Berlin Farms in Erde?

Untersuchungen zeigen, dass sich bestimmte Mikroorganismen in der Erde nicht nur positiv auf die Pflanzengesundheit, sondern auch auf das Magen-Darm-System der Menschen auswirken, die diese Pflanzen verzehren. Substrate oder Systeme mit Wasser und Nährstofflösungen können das nicht imitieren. 

Wie bekommen die Pflanzen Licht?

Statt natürlichem Sonnenlicht nutzen wir LEDs. Mit künstlichem Licht, das präzise steuerbar ist, erzielen wir eine gleichbleibende Qualität. Da wir Bio-Supermärkte und Restaurants beliefern, sind reproduzierbare Ergebnisse für uns entscheidend. Die lassen sich nur erreichen, wenn alle wichtigen Faktoren wie Licht, Luftfeuchtigkeit, Temperatur, genau kontrollierbar sind. Dank der Container – betrieben mit Strom aus erneuerbaren Quellen wie unserer Photovoltaikanlage – können wir ganzjährig frische Produkte liefern.

Welche Rolle wird Indoor-Farming in Zukunft spielen?

Ich bin mir sicher: Indoor-Farming wird in den kommenden Jahren immer wichtiger werden. Aufgrund des Klimawandels nehmen Wetterextreme zu, die in der Regel zu Ernteausfällen führen. Mit Tomaten, Erdbeeren oder Salaten funktioniert der Indoor-Anbau schon recht gut. Die große Herausforderung ist es, wirtschaftlich zu arbeiten. Die meisten Pflanzen aus der Indoor-Produktion können derzeit noch nicht mit den Preisen konventionell angebauter Pflanzen mithalten. Das liegt vor allem an den hohen Energiepreisen. Während Microgreens in wenigen Tagen verzehrfertig sind, benötigen Salate im Indoor-Anbau bis zu vier Wochen zur Reife. Sie wachsen damit zwar schneller als Salate im Outdoor-Anbau, aber die künstliche Belichtung ist sehr kostenintensiv, weshalb auf dem Feld gewachsener Salat momentan noch deutlich günstiger ist. 

Welche Sorten und welche Zubereitung empfehlen Sie Einsteigern, die zu Hause züchten wollen?

Für den Einstieg eignen sich milde Sorten wie Brokkoli, Alfalfa und Grünkohl oder das leicht scharfe Radieschen. Meine Empfehlung: Einfach eine frische Scheibe Brot nehmen, Butter darauf verstreichen, Microgreens darauf geben – und genießen. 


Zur Person
Silke Wehrle gründete 2022 die Berlin Farms GmbH und begann am Berliner Kreativstandort Goerzwerk mit der Entwicklung einer Indoor-Vertical-Farm. Seit Anfang 2023 baut die Wirtschaftsingenieurin im Team mit Marie Merour und Robin Burr Microgreens und Kräuter an. Der Vertrieb der nährstoffreichen Pflanzen erfolgt unter dem Markennamen Supergrün an Bio-Supermärkte, Privatkunden und die Gastronomie.  

25,6 Milliarden Euro 
betrugen die Schäden, die 2018 und 2019 in der deutschen Forst- und Landwirtschaft durch Extremwetter entstanden. 
Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz

16,35 Milliarden Euro
beträgt der globale Markt für Indoor-Farming-Technologien Schätzungen zufolge im Jahr 2027.
Quelle: Marketresearch.com

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