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„Auch soziale Unternehmen sind produktiv“

Text von Susanne Widrat
23.08.2023
Unternehmen

Mit ihrem gemeinnützigen Unternehmen innatura bewahrt Dr. Juliane Kronen seit nunmehr zehn Jahren fabrikneue Konsumgüter vor der Vernichtung. Diese werden stattdessen an gemeinnützige Organisationen weitervermittelt und gespendet. Im Te:nor-Interview zieht die Kölnerin Bilanz.

Sachspenden im Marktwert von rund 50 Millionen Euro, die nicht vernichtet wurden. Einsparungen in Höhe von knapp 33 Millionen Euro auf Seiten von gemeinnützigen Organisationen dank dieser Zuwendungen. Und 8.000 Tonnen Abfall, die vermieden werden konnten. Die Zehn-Jahres-Bilanz von innatura kann sich sehen lassen, oder?

Dr. Juliane Kronen: Auf jeden Fall! Inzwischen spenden mehr als 200 Hersteller- und Handelsunternehmen Waren, statt diese zu vernichten. Und auf der anderen Seite haben wir etwa 6.500 registrierte gemeinnützige Organisationen, von denen etwa ein Drittel regelmäßig bei uns bestellt. Aber es gibt noch Luft nach oben, denn alljährlich werden Konsumgüter im Wert von sieben Milliarden Euro in Deutschland vernichtet, konservativ geschätzt. Und wir reden hier von fabrikneuer Ware, zum Beispiel aus Überproduktionen.

Das sind beeindruckende und gleichermaßen erschreckende Zahlen …

Ja, und tatsächlich ist der Bedarf der gemeinnützigen Organisationen einer Studie der Uni Köln zufolge zehn Mal so hoch. Wir könnten also noch viel mehr Waren vermitteln und vor der Vernichtung retten, wenn wir mehr Spenden hätten.

Wäre es nicht besser, diese Überproduktion zu vermeiden?

Das versuchen Unternehmen bereits, schon aus Kostengründen. Aber es gelingt ihnen nicht immer, genau abzuschätzen, wie viel von einem Produkt verkauft wird. Wir Konsumenten reagieren eben nicht immer so, wie von den Unternehmen geplant – was ja auch gut ist.

Welche Waren werden denn bei innatura am häufigsten nachgefragt?

Vor allem Konsumgüter des täglichen Bedarfs, also Hygieneprodukte, Windeln, Waschmittel, aber auch Spielzeug oder Bürobedarf. Unsere Kunden sind vor allem Einrichtungen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe – für diese Waren benötigen sie ständig Nachschub. Und der ist teuer.

innatura legt viel Wert darauf, dass die Ware fabrikneu und uneingeschränkt funktionstüchtig ist. Warum?

Das ist eine Frage der Würde. Ich meine die Würde derjenigen, die am Ende die Ware bekommen. Ich bin der Meinung: Auch wer Unterstützung benötigt, darf nicht mit gebrauchten, defekten oder verdreckten Produkten abgespeist werden. Mit neuen Waren schützen wir die Empfänger vor Stigmatisierung.

Die gemeinnützigen Organisationen zahlen zwischen 5 und 20 Prozent des Marktpreises für Waren, die innatura vermittelt. Was tun Sie mit diesem Geld?

Mit diesen Einnahmen finanzieren wir zum Beispiel die Gehälter unserer zehn festangestellten Mitarbeiter, das Logistikcenter in Gremberghoven und die Transportkosten.

Es gibt so viele gute Geschäftsideen für Sozialunternehmen. Doch oft werden sie nicht realisiert, weil es keine Finanzierung gibt.
Dr. Juliane Kronen, innatura

Wie stellen Sie sicher, dass sich im innatura-Lager stets befindet, was gerade nachgefragt wird?

Das gelingt uns selbstverständlich nicht immer. Aber wir haben inzwischen genug Erfahrung, um zu wissen, welche Produkte Abnehmer finden. Manchmal werden aber auch wir überrascht …

Zum Beispiel?

Uns wurden einmal Kinder-Matschhosen angeboten. Alle hier waren sich einig: Die werden uns von Kindereinrichtungen aus den Händen gerissen. Von wegen! Deshalb reagieren wir bei neuen Produkten sehr zurückhaltend. Wenn 2.000 Lüftungsgeräte erst einmal im Lager angekommen sind, nehmen die Kartons immens viel Platz weg. Deshalb versuchen wir zunächst, eine kleinere Menge, also etwa 100 Stück, zu vermitteln. Gestaltet sich schon das schwierig, nehmen wir das Angebot erst gar nicht an. 

Es gibt ein Thema, das Sie umtreibt, seitdem Sie innatura führen: Die Umsatzsteuer, die auf Sachspenden zu zahlen ist …

Oh, ja! Diese Steuer bewirkt, dass es für Unternehmen günstiger ist, Waren zu vernichten, statt sie zu spenden. Das ist alles andere als nachhaltig! Immerhin wird die Kritik an dieser Regelung mittlerweile politisch gehört.

Wie ist der aktuelle Stand?

Das Thema hat es bis in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung geschafft. Und inzwischen empfiehlt auch das EU-Parlament, den Mehrwertsteuersatz auf gesellschaftlich wünschenswerte Transaktionen auf null abzusenken. Doch so richtig wagt sich niemand an das Problem. Bei allem, was mit Politik zu tun hat, muss man eben sehr hartnäckig sein – und das bin ich.

innatura erhält nicht nur Sachspenden von den Unternehmen, sondern auch anderweitige Unterstützung. Wie sieht die aus?

Uns helfen zum Beispiel Mitarbeiter von Unternehmen wie der Bethmann Bank im Rahmen ihrer Social days regelmäßig bei der Sortierung der Waren. Und die Bank unterstützt uns auch finanziell beziehungsweise mit ihrem umfassenden Netzwerk.

Frau Kronen, wenn Sie drei Wünsche frei hätten, was würden Sie sich wünschen?

Erstens, dass bedarfsgerechtes, nachhaltiges Wirtschaften für uns alle selbstverständlicher wird. Zweitens, dass das Start-up-Feeling bei innatura noch lange erhalten bleibt: Wir sind einzigartig, etwas Besonderes, getragen von begeisterten Mitarbeitern! Ich möchte nicht, dass wir ein etabliertes Unternehmen werden - mit einer gewissen Trägheit, die sich dann meist breitmacht.

Und drittens?

Dass soziale Innovationen künftig den gleichen Stellenwert einnehmen wie technische Innovationen.

Was genau meinen Sie damit?

Es gibt so viele gute Geschäftsideen für Sozialunternehmen. Doch oft werden sie nicht realisiert, weil es keine Finanzierung gibt. Wir müssen das politische und gesellschaftliche Verständnis weiterentwickeln, damit wir erkennen: Auch soziale Unternehmen sind produktiv. Wir können es uns nicht leisten, dass so viele tolle Ideen nicht Wirklichkeit werden.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Sicher: Nehmen Sie zum Beispiel „Wege aus der Einsamkeit“. Die Hamburger Initiative unterstützt Senioren unter anderem bei ihren ersten Schritten in die digitale Welt und wird getragen von Ehrenamtlichen. Dagmar Hirche, die Gründerin, hat mir erzählt, dass sie von Anfragen überrannt werden – aber es ist nicht genug Geld da, um das Angebot auszubauen. Solche Projekte brauchen und verdienen in unserer Gesellschaft mehr Wertschätzung.


Zur Person
Dr. Juliane Kronen war 16 Jahre lang in einer internationalen Beratungsgesellschaft tätig, davon acht Jahre lang als Partnerin. 2013 gründete sie das gemeinnützige Unternehmen innatura (www.innatura.org), das Sachspenden für soziale Zwecke vermittelt. innatura ist Teil des Netzwerks „In Kind Direct International“, das unter der Schirmherrschaft des britischen Königs Charles III. steht. Kronen ist zudem Jury- und Vorstandsmitglied des alternativen Nobelpreises Right Livelihood Award und Honorarkonsulin für Schweden in Nordrhein-Westfalen.

38.785 Einrichtungen
der Kinder- und Jugendhilfe gab es 2020 in Deutschland.
Quelle: Statista

62 Milliarden Euro
wurden 2021 für Kinder- und Jugendhilfe ausgegeben.
Quelle: Statista

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