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Einfach mal abheben

Text von Simon Zeise
20.06.2023
Unternehmen

Mit dem Jetsuit von Gravity können Menschen Grenzen überwinden und dem Himmel ein Stück näherkommen – oder einfach Leben retten. Die Entstehungsgeschichte zeigt: Nur wer wagt, gewinnt!

Der Traum vom Fliegen zieht sich durch die Menschheitsgeschichte. Die ersten Flugstunden absolvierte Ikarus im alten Griechenland. Doch er wollte zu hoch hinaus: Die Sonne ließ das Wachs schmelzen, mit dem seine Flügel aus Federn zusammengeklebt waren. Dem kurzen Höhenflug folgte der jähe Absturz. Während der Renaissance waren größere Ideen gefragt: Der italienische Universalgelehrte Leonardo da Vinci entwarf 1490 eine Flugmaschine, in der der Pilot in einem Holzrahmen auf dem Bauch liegend mittels Hebeln, Pedalen und Riemenscheiben Flügel zum Schlagen bringen sollte. Klingt schon zu kompliziert, als dass es hätte funktionieren können. Mitte des 19. Jahrhunderts schaffte es Otto Lilienthal dann mit seinen selbst gebauten Flügeln immerhin 80 Meter weit – bevor er seine Flugversuche mit dem Leben bezahlte.

Im Nordwesten Englands forscht seit 2016 das Unternehmen Gravity an der Erfüllung des Menschheitstraums. Vielleicht ist der Iron Man die Lösung? Der nach dem Helden der Marvel-Comicserie benannte Fluganzug wird von einer großen Gasturbine angetrieben, die der Pilot auf dem Rücken trägt. Vier weitere kleinere Turbinen an den Armen balancieren die Seitenlage aus. Vollgetankt wiegt der Jetsuit etwa 35 Kilo, also fast das Doppelte einer Taucherflasche. Mit bis zu 1.000 PS geht es durch die Lüfte. Der Antrieb schafft eine Höchstgeschwindigkeit von 80 Kilometern pro Stunde und ist in der Lage, eine Höhe von 3.600 Metern zu erreichen. Darüber hinaus wird es zu riskant – das gilt für Iron Man heute genauso wie einst für Ikarus.

Obwohl große Luftfahrtunternehmen Gravity-Gründer Richard Browning von der Entwicklung des Fluganzugs abrieten, ließ er sich von seinen Plänen nicht abbringen. Die Hitze der Düsen wäre unkontrollierbar, der Pilot würde in einem Feuerball verglühen, wurde er gewarnt. „Ich könnte nie genug Energie erzeugen – und wenn doch, würde ich sie niemals bändigen können. Die Rotationskräfte würden meinen Arm jedes Mal abreißen, wenn ich ihn bewege“, erinnert sich Browning im Gespräch mit dem Magazin Business Punk an die Prophezeiungen der vermeintlichen Experten. Seine Lösung? Alle Widerstände ignorieren, sowohl die physikalischen als auch die gesellschaftlichen. „Jede Erfindung, die die Menschheit je weitergebracht hat, entstammt der Missachtung konventioneller Annahmen“, sagte er und legte los.

Der Erfolg gab dem Briten schnell recht: Ein Jahr nach den ersten Versuchen und nur knapp zwei Monate nach der Unternehmensgründung im Jahr 2017 sicherte sich Gravity eine Investition in Höhe von 650.000 US-Dollar. Seine Geldgeber: Tim und Adam Draper. Die Brüder sind für ihre frühen Investitionen in den chinesischen Tech-Riesen Baidu sowie in Tesla und Skype bekannt. Browning überzeugte sie mit einem flugtauglichen Modell des Jetsuit, das allerdings seine Macken hatte: „Ein Treibstofftank war undicht, die Elektronik wackelig, nur vier der sechs Motoren funktionierten – zwei hatte ich überhaupt erst in letzter Minute gekauft, als ich in Amerika ankam“, verrät er gegenüber Business Punk. Was zählt, ist das Ergebnis: Iron Man flog und die Draper-Brüder waren begeistert.

Doch nicht nur die. Um Geld zu verdienen, zeigt das Unternehmen den Anzug bei Veranstaltungen auf der ganzen Welt, wie etwa bei der Eröffnung der Baseball-Saison in Japan. Und tatsächlich: Interessenten und Investoren stehen Schlange. Allein im Jahr 2022, so Browning, nimmt Gravity etwa fünf Millionen US-Dollar ein, wovon etwa zehn Prozent Gewinn sind.

Auf zivilem Terrain hat Iron Man bereits seinen Siegeszug begonnen. Angesichts der Herausforderungen durch den Klimawandel könnten Fluganzüge nämlich eine Zeitenwende einleiten. Extreme Wetterphänomene wie Orkane und Starkregen nehmen zu. Durch Erdrutsche, Gletscherschmelzen oder Hochwasser unwegsam gewordenes Gelände stellt Rettungskräfte vor immense Herausforderungen. Im englischen Nationalpark „Lake District“ testeten Rettungssanitäter den Iron Man erstmals erfolgreich in der Praxis. Die Spitze eines 950 Meter hohen Berges erreichten sie bei Regen und Gegenwind im Jetsuit in gerade mal drei Minuten. Zu Fuß hätten sie länger als eine Stunde benötigt. Ein Zeitunterschied, der zwischen Leben und Tod entscheiden kann. Geplant ist, dass die ersten Fluganzug-Sanitäter im Sommer 2023 an den Start gehen, ausgestattet mit Ersthilfe-Kit und Defibrillator.

Auch dort, wo konventionelle Infrastruktur an Grenzen stößt, kann sich der Jetsuit bewähren. Mit dem Iron Man konnte beispielsweise Post auf der Isle of Wight zugestellt werden. Pünktlich lieferte Firmengründer Browning 2019 persönlich eine Sendung in nur 75 Sekunden ab – diese Zeitspanne benötigte er, um die 1,3 Kilometer lange Strecke zwischen Festland und Insel fliegend zurückzulegen.

Eine Branche, die ebenfalls schnell von seiner Erfindung Wind bekam, war das Militär. Die britische Armee ließ sich den Iron Man vorführen. Mit dem Jetsuit können Soldaten schnell über Wasser, Minenfelder und andere Hindernisse befördert werden. Bei einer Übung mit der Royal Navy gelang es, während einer Verfolgungsjagd von einem Schnellboot aus mit dem Fluganzug ein Schiff in nur wenigen Sekunden zu entern. Der Schutz von Lieferketten und Handelsrouten eröffnen Gravity somit ein neues Geschäftsfeld.

Derzeit arbeitet Gravity an einer nachhaltigen Entwicklung des Fluganzugs. Eine elektrische Version des Iron Man existiert bereits. Amazon-Chef Jeff Bezos konnte sie bei einer Privatvorstellung in Aktion sehen, rühmt sich das Unternehmen. Doch bislang sind die Batterien, die für den Antrieb benötigt werden, noch zu schwer. Getankt wird deshalb auf unbestimmte Zeit noch Diesel oder Kerosin.

Browning weiß, wie unwahrscheinlich es ist, dass in absehbarer Zeit Scharen von Menschen in der Luft herumschwirren werden. Dagegen sprechen schon allein die hohen Kosten: Wer einen Anzug für ein paar Stunden in einem der Flugzentren des Unternehmens testen möchte, muss immerhin rund 3.000 US-Dollar zahlen.

440.000 US-Dollar
kostet ein Jetsuit.

4 Minuten
dauerte der bisher längste Flug des Iron Man.

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