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Die Tausendjährigen – Auf der Suche nach der ältesten Brauerei Deutschlands

Text von Hilmar Poganatz
23.06.2023
Unternehmen

Die wenigsten Unternehmen überdauern die Jahrhunderte. Was ist also das Erfolgsrezept der marktwirtschaftlichen Methusalems? Warum brauen die meisten von ihnen Bier? Und welche Brauerei ist die älteste? Eine Spurensuche im Herzen Bayerns.

Eiskalt schießt das ungefilterte Zwickl ins Glas, getrieben durch den Druck von 100.000 Litern Bier. Das reicht mal für ein schönes Fest, sagt Braumeister Tobias Zollo und schenkt noch ein Kellerbier nach. Das Fass, aus dem Zollo zapft, ist ein gigantischer Tank unter dem Weihenstephaner Berg in Freising bei München. Wie ein U-Boot in einem viel zu kleinen Kaiserzeit-Bunker drängt sich der Edelstahl in die Gewölbe, die den Brauereiberg durchhöhlen. Hier entsteht seit vielen Jahrhunderten das Weihenstephaner Bier. Einst wurde es von Benediktinermönchen, später von staatlichen Brauern wie Tobias Zollo gebraut. Seit mehr als 1.000 Jahren sprudelt das Wasser dafür aus dem Nährberg.

Gleich hinterm Stu-Café, wo die Studenten der benachbarten Brauerei-Fakultät Weißbier trinken, führen steile Stufen in die Vergangenheit. Unter der Ruine einer Backsteinkapelle sprudelt am Ende eines Stollens noch immer die Quelle, die der heilige Korbinian im Jahr 725 entdeckt haben soll. Wo einst ein Strahl aus dem Fels schoss, plätschert heute ein fast versiegtes Brünnlein vor sich hin – ganz anders als der Bierausstoß der eigenen Angaben zufolge ältesten Brauerei der Welt, der sich in den vergangenen 100 Jahren verzehnfacht hat.

Erfolgsrezept: Essen, Trinken, Schlafen

Nur sehr wenige Unternehmen sind so lange so erfolgreich. Wenn sie es sind, bedienen sie meist erfolgreich menschliche Grundbedürfnisse: Essen, Trinken, Schlafen. Zu den ältesten bis heute operierenden Unternehmen Deutschlands gehören Gasthäuser, Weinberge, ein Hilfswerk und vor allem: Brauhäuser. Als älteste noch bestehende Brauerei gilt die Brauerei Weihenstephan, deren Flaschen das Jahr 1040 ziert. Eine Zahl wie ein Monolith. Das ist Teil unserer Identität, sagt Brauerei-Sprecherin Anne Stühler und nennt eine Urkunde aus dem Münchener Staatsarchiv, die das frühe Datum belege. Trotzdem sei der Nachweis nach wie vor schwierig, gibt Stühler zu.

In der Tat ist die Beweislage vertrackt. Bis in die 1950er-Jahre warb man in Weihenstephan noch mit dem Datum 1146. Dann entlarvte der Historiker Bodo Uhl diese Schrift als eine Fälschung, mit der die Mönche im 17. Jahrhundert ihr Braurecht belegen wollten. Trotzdem nennen die Weihenstephaner sich weiterhin älteste Brauerei – schließlich habe das Kloster schon um 768 Hopfengärten gehabt, betont Stühler. Historiker wie Uhl hingegen wundern sich: Wie man dann aber exakt auf das Jahr 1040 kam, bleibt auch weiter unverständlich. So plausibel es also klingt, dass die Weihenstephaner schon zur ersten Jahrtausendwende Cervisia brauten – beurkundet ist es nicht.

Expansive Weißbierpolitik

Das ist wenig verwunderlich, denn Originalurkunden überstehen nur sehr selten ein Jahrtausend. Hunneneinfälle, Pest und Feuersbrünste sind über das Land gefegt – wie ist es da überhaupt möglich, dass ein Wirtschaftsbetrieb so lange überdauert? Das liegt daran, dass Bier schon immer ein so gutes Geschäft war, dass man die Brauereien immer wieder aufgebaut hat, sagt Florian Notter. Aus seinem in einer ehemaligen Kaserne einquartierten Freisinger Stadtarchiv heraus versucht der jugendlich wirkende Historiker mit der Hornbrille, Antworten zur lokalen Bierkultur zu geben: In Bayern hat eine expansive Weißbierpolitik schon oft den Staatshaushalt saniert, erklärt Notter ebenso humorvoll wie fundiert.
Selbst als Bayern 1803 die Klöster verstaatlichte, sei das für die Weihenstephaner Brauerei ein Glücksfall gewesen. Denn während andere Klosterbrauereien ihr Ende fanden, blühte die säkularisierte Brauerei nun richtig auf. Der Staat stellte schon 1852 eine Landwirtschaftliche Zentralschule auf den Berg, auf dem man heute modernste Brautechnologie studieren kann. So kamen nach 800 Jahren im Schoß der Kirche weitere Faktoren hinzu, die ein langfristiges Überleben des Betriebs sichern, sagt Notter: Forschung, Wissenschaft und Politik.

Erfolgreich auch ohne Hightech

Dass es beim Mälzen und Maischen auch ohne Hightech gelingen kann, 1.000 Jahre im Geschäft zu bleiben, beweist ausgerechnet der bayerische Betrieb, der mit den Freisingern um den Titel der ältesten Brauerei konkurriert: Seit 1050 steht auf den braunen Flaschen, die aus dem Kloster Weltenburg kommen, das malerisch und still zwischen Wäldern und Hopfenfeldern an einer Donauwindung bei Regensburg liegt. Schon um 617 soll hier ein Kloster entstanden sein.
„Als ich 1954 hierher kam, haben wir noch Holzfässer ausgefahren“, erinnert sich Alois Beckstein an seine Zeit als Braubursch im Weltenburger Kloster. In seiner Wildlederjacke mit Hirschhornknöpfen steht der altgediente Lehrer und Lokalpolitiker im Hof der barocken Anlage und zeigt auf die kleine Brauerei: „Da hab ich damals noch mit Bruder Achatz zusammen das Eis für die Kühlung geschlagen, alles manuell.“ Beckstein, heute 77 Jahre alt, ist verantwortlich dafür, dass sich Weltenburg als älteste Klosterbrauerei der Welt bewirbt.

Rezepte wir vor 500 Jahren

Als er nach seiner Lehre ein Lehramtsstudium aufnimmt, schreibt er seine Zulassungsarbeit über die Geschichte seines ehemaligen Arbeitgebers. Stolz zeigt er die mit Schreibmaschine getippten Seiten: „Darin weise ich nach, dass in Weltenburg schon vor 1045 gebraut wurde“, sagt er. Ein Rundgang durchs Brauhaus zeigt gelebte Tradition. Dort lagert das Bamberger Röstmalz noch in Säcken auf dem Dachboden und das Brauwasser kommt wie eh und je aus dem eigenen Brunnen. Ludwig Mederer, der junge Braumeister im Wolljankerl, zeigt den alten Felsenkeller im Jurakalk. Den füllen erst seit diesem Jahr moderne Stahltanks, in denen die dunklen Biere bei ca. 7 Grad Celsius lagern und reifen. „Die Rezepturen sind prinzipiell dieselben wie 1516, auch wenn sie der Technik angepasst wurden“, sagt Mederer.

Keine Gewinne um jeden Preis

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist auch hier ein Glücksfall. Denn so wie die Weihenstephaner wurde auch die Weltenburger Benediktinerabtei 1803 vom Staat säkularisiert. Doch während der König die Freisinger Brauerei selbst behielt, gestattete er dem Weltenburger Kloster 1842 eine Neueröffnung – samt Brauerei. Die ruht bis heute im schützenden Schoß der Kirche, auch wenn die wenigen verbleibenden Mönche ihren gewinnträchtigen Betrieb inzwischen verpachten.
Seit mehr als 40 Jahren führt die Regensburger Brauerei Bischofshof die Geschäfte. Weil die ihrerseits dem Bistum gehört, sorgt ein Stiftungsmodell dafür, dass jegliche Überschüsse reinvestiert oder für soziale Zwecke verwendet werden. Denn auch das scheint ein Geheimnis der Tausendjährigen zu sein, unabhängig davon, ob Kirche oder Staat dahinterstehen: gesundes Wirtschaften ja – aber kein Gewinnstreben um jeden Preis. Oder, wie die Weihenstephanerin Stühler es ausdrückt: Schon aus Traditionsgründen würden wir nie ausschließlich auf Wirtschaftlichkeit achten, denn darunter leidet auch irgendwann die Qualität der Biere. Wir sind einfach kein Konzern.

Entspannter Blick aufs Gründungsdatum

Bleibt die Frage, welche Brauerei denn nun nachweislich die älteste ist. Wir wissen, dass anno 1050 der Brauermönch im Kloster Weltenburg gestorben ist, das geht aus dem Weltenburger Martyriologium hervor. Das müsste letztlich bedeuten, dass es bereits vor 1010 im Kloster Weltenburg Bier gab. Von daher glauben wir, dass wir eigentlich eine noch ältere Brauerei sind, als wir wissen, sagt der Weltenburger Sprecher Thomas Neiswirth. Die Quelle, auf die er und der Hobbyhistoriker Beckstein sich beziehen, stammt zwar tatsächlich aus dem Jahr 1047 und nennt einen praxator (Brauer) namens Hervic. Allerdings verrät das im eigenen Klosterladen vertriebene Geschichtsbuch, dass Historiker inzwischen nachgewiesen haben, dass das besagte Sterbebuch noch von zwei weiteren Klöstern benutzt wurde. Die dunklen Jahre bieten eben alles andere als Eindeutigkeit.

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