Rohstoff der Zukunft
Sie sind lecker, lästig oder lebensgefährlich: Pilze. Wir kennen sie vor allem als Lebensmittel, Schimmel in der Ecke, Krankheitserreger oder Gift. Doch Pilze, vor allem ihr Wurzelgeflecht, können auch Schadstoffe abbauen, als Bioziegel wachsen oder Fleisch und Leder ersetzen.
Als der Steinzeitmann Ötzi vor rund 5.300 Jahren in den Tiroler Alpen unterwegs war, hatte er neben Kupferbeil und Pfeilen auch Pilze im Gepäck. Aber nicht zum Essen. Dazu waren sie zu bitter. In Ötzis Gürteltasche steckte ein Stück Zunderschwamm, das ihm wohl beim Feuermachen half. Auf Fellstreifen hatte er Birkenporlinge aufgefädelt – vermutlich seine Reiseapotheke. Denn dieser Baumpilz soll blutstillend und antibiotisch wirken.
Was schon in der Jungsteinzeit bekannt war, fasziniert heute immer mehr Fachleute an Universitäten oder in Unternehmen: Pilze sind enorm vielfältig einsetzbar. Nicht nur als Nahrung oder Medikamente – aus ihnen lassen sich auch Baustoffe oder Dämmmaterial herstellen. Pilze können Böden reinigen, Aromen produzieren und Grundstoff für Taschen, Schuhe oder Burgerpattys liefern. Sie wachsen überall, und zwar schnell: im Wald, in den Bergen oder im Wasser. Die Alleskönner gelten deshalb als Rohstoff der Zukunft. Forschung und Industrie setzen dabei auf die zahlreichen Fähigkeiten, die Pilze über Abermillionen Jahre entwickelt haben.
Das Hamburger Start-up Mushlabs etwa nutzt „eine uralte Technologie aus der Natur“, um Fleischersatz auf Pilzbasis herzustellen: Fermentation. Ähnlich wie bei der Herstellung von Sauerkraut oder Sojasoße entsteht das gewünschte Produkt durch Umwandlung im Bioreaktor. Mushlabs füttert das Myzel genannte Pilzwurzelgeflecht mit Stoffen, die in der Lebensmittel- und Agrarindustrie, beispielsweise in der Bierproduktion bei Bitburger, übrigbleiben, und züchtet so die Rohzutat für Würstchen, Hackfleisch oder Aufstriche. Kaufen kann man die Produkte noch nicht, sie müssen erst zugelassen werden.
Hühnchenersatz vom Baum
Walding Foods, ein Start-up aus dem Raum München, beliefert bereits Gastronomie- und Cateringbetriebe mit veganen Burgerpattys, Snacks oder Soßen, die mithilfe von Pilzen fermentiert werden. Auch ein Kindertagesstätten-Träger zählt zur Kundschaft, mit einem Schweizer Krankenhausbetreiber liefen zuletzt Gespräche, wie Chefin und Mitgründerin Alison Stille sagt. Gemeinsam mit ihrem Mann und einem Freund war sie lange auf der Suche nach der richtigen Kombination aus Pilz und passendem Futter. „Wir haben jahrelang herumexperimentiert und sehr viel widerliches Zeug probiert“, erzählt sie lachend. Schließlich schmeckte dem Trio das eigene Produkt und das Unternehmen ging 2020 an den Start. „Wir machen vor allem Quinoa-Tempeh. Man sieht die weißen Fäden drin“, beschreibt Stille. „Wenn die Pattys noch nicht mariniert sind, schauen sie aus wie Camembert.“ Die Körner werden vom Pilzmyzel durch- und umwachsen. Das Wurzelgeflecht sorgt für die typische Pattyform und wird später mitgegessen. Bis die Pattys „gewachsen“ seien, dauere es nur ein paar Tage. „Man braucht Wärme, sehr wenig Licht, sehr wenig Strom.“ Außerdem sei die Produktion „relativ platzsparend“.
Etwas mehr Raum benötigt ein anderes Projekt, an dem das Gründer-Trio seit 2017 tüftelt: „Chicken of the Woods“, ein Baumpilz, der gebraten wie Hühnchen schmecken soll. Allerdings lässt sich der Gemeine Schwefelporling, so der deutsche Name, schwer in Lebensmittelqualität züchten, wie Biotechnologin Stille erläutert. 2022 meldete Walding Foods ein Patent darauf an. Weitere Experimente und Forschung seien nötig – und rund eine Million Euro. Dann könnte das vegane Lebensmittel in zwei Jahren marktreif sein.
Auch in vielen anderen Branchen wird mit Pilzen experimentiert, in der Hoffnung auf ressourcenschonende, CO2-sparende und nachhaltige Materialien und Prozesse. Noch werden oft lediglich Prototypen produziert und Verfahren in Versuchen getestet. In Bauindustrie und Architektur beispielsweise könnten mithilfe von Myzel in der gewünschten Form gewachsene Ziegel oder Dämmungen, Möbel und andere Einrichtungsgegenstände zum Einsatz kommen. Das Pilzmaterial ließe sich auch als Ersatz für Styropor verwenden, etwa in Verpackungen oder Fahrradhelmen, die gleich in der benötigten Form wachsen.
„Die Natur ist der beste Architekt“, wirbt die italienische Firma Mogu für ihre Akustik- und Wandpaneele aus Pilzmyzel und Reststoffen. Einer der Gründer, Maurizio Montalti, hat sich schon vor Jahren als Designstudent einen Namen gemacht mit Materialien aus Pilzen, die sich wie Latex, Leder oder Stoff anfühlen sollen; je nachdem, ob Baumwolle, Kaffee- oder Teereste den Nährboden bilden.
„Ein wichtiger Schritt zum Ende des Plastikmülls“
2022 kündigte Mogu den Marktstart seines Pilzleders an und schickte bei der Fashion Week in Paris einen bodenlagen Mantel über den Balenciaga-Laufsteg. Balenciagas Mutterfirma wiederum, der französische Luxusgüterkonzern Kering, ist Partner des US-Unternehmens Bolt Threads, das ebenfalls auf Pilzmyzel basiertes Leder produziert. Auch die Sportartikelhersteller lululemon und adidas sowie die Stardesignerin Stella McCartney sind an Bord. Die Britin stellt aus dem Material hochpreisige Handtaschen her. Der Autobauer Mercedes zeigte das Pilzleder im vergangenen Jahr in einem Concept-Car. Adidas kündigte 2021 an, das beliebte Turnschuhmodell „Stan Smith“ mit dem Werkstoff der Kalifornier herstellen zu wollen. Das sei „ein wichtiger Schritt hin zu unserem Ziel, Plastikmüll ein Ende zu setzen“, schwärmte der fränkische Konzern, nannte aber kein konkretes Datum, ab wann die Spezial-Sneakers zu kaufen sind. Wer jetzt schon Schuhe aus Pilzleder tragen möchte, kann sie beim Münchner Schuhdesigner Sebastian Thies bekommen. Unter dem Markennamen nat-2 stellt er handgefertigte Unikate her, die unter anderem aus getrocknetem Zunderschwamm bestehen. „Achtung!“, warnt Thies vor dem Kauf: „Dieses Produkt ist Kunst in der Form eines Schuhs. Es ist sehr fragil und nicht geeignet für Alltagsaktivitäten wie Sport, Motorradfahren, langes Laufen.“
Viele weitere Einsatzmöglichkeiten lassen sich aus der Natur ableiten, wo Pilze eine zentrale Rolle spielen. Die Fähigkeit, jede Art von organischem Material zu zersetzen, hilft zum Beispiel, um Böden und Abwasser von Schadstoffen zu reinigen oder um Biokraftstoff zu produzieren. Die Tatsache, dass viele Bäume in Symbiose mit Pilzen leben und über deren Wurzelwerk im Boden miteinander verbunden sind, könnte dazu beitragen, dass Wälder dem Klimawandel samt Trockenphasen besser standhalten.
Über das Myzel bekommen die Bäume Wasser und Nährstoffe. Auch schwächere Exemplare werden mitversorgt, „unabhängig von der Baumart“, wie die Deutsche Gesellschaft für Mykologie erläutert. „Beispielsweise können Buchen an Tannen Nährstoffe abgeben.“ Für den Wald lassen sich dadurch heiße und trockene Phasen leichter überstehen.
Pilzenzyme für die Käseproduktion
Pilze produzieren außerdem zahlreiche Substanzen, die in Medikamenten, Lebens- oder Reinigungsmitteln zum Einsatz kommen. In der Medizin begann der Siegeszug der Antibiotika mit der zufälligen Entdeckung des Penicillins vor rund 100 Jahren – ein Stoffwechselprodukt von Schimmelpilzen. Auch Ausgangsstoffe für Cholesterinsenker oder Immunsuppressiva für Organtransplantationen basieren auf Pilzen.
Der bekannteste Lebensmittelzusatzstoff ist die Zitronensäure, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts mithilfe von Schimmelpilzen industriell hergestellt wird. Pilze liefern Erdbeer-, Kokos- oder Pfirsicharoma, Hefen ermöglichen die Herstellung von Brot, Bier oder Wein. An Pilzenzymen für die Käseproduktion arbeitet das Allgäuer Unternehmen Optiferm, ein Spezialzulieferer für die Milchwirtschaft, zusammen mit der Universität Gießen.
Weil tierische Enzyme, etwa aus den Drüsen von Ziegen, oft nicht mehr verwendet werden, schmeckt beispielsweise Feta anders als früher. „Weißkäse ist einfach langweiliger geworden“, sagt der kommissarische Forschungschef Dr. Alexander Siegl. „Mit Enzymen aus einem bestimmten Speisepilz könnte man wieder klassischen Käse mit vergleichbarem
Geschmacksprofil herstellen. Er wäre vegetarisch, koscher und halal.“ Außerdem sei eine Verwendung in veganen Käsealternativen angedacht. „Wenn die Versuche gut laufen, hoffen wir, dass wir das Produkt innerhalb von fünf Jahren zur Marktreife bringen.“
Dieser Artikel ist zuerst in Character erschienen, dem Gesellschaftsmagazin der Bethmann Bank. Auf unserer Webseite finden Sie mehr Informationen zur aktuellen Ausgabe.
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