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Diese Straßen sind (aus) Müll

Text von Florian Kinast
05.11.2024
Nachhaltigkeit

Neuer Asphalt mit altem Plastik: Wie Jonas Varga mit geschredderten Plastikabfällen seine Idee von nachhaltigen Verkehrswegen vorantreibt. Besuch bei dem visionären Start-up „ecopals“ in Berlin.

Ein verregneter Freitagvormittag im Norden Potsdams. Ein Paketzusteller fährt auf der B 273 mit seinem Kleintransporter Richtung Stadtteil Bornim, hinter ihm ein schwarzer SUV. In der Gegenrichtung ist ein Bus der Linie 614 zum Hauptbahnhof unterwegs, via Sanssouci, nächste Haltestelle: Florastraße. Dass sie alle hier gerade über einen ganz besonderen Belag fahren, weiß vermutlich kaum jemand in den Fahrzeugen. Wie auch. Man sieht es nicht, man hört es nicht und man spürt es nicht: Diese Straße besteht aus Müll – und führt damit in die Zukunft.

Zwei Stunden später, knapp 30 Kilometer Luftlinie weiter nordöstlich. Berlin-Mitte, ein Hinterhof in der Strelitzer Straße. In ihrem Kellerbüro sitzen Jonas Varga und Justus Susewind an einem Besprechungstisch, vor ihnen eine gut gefüllte Müslischale.

Kürzlich schrieb einer ihrer Mitarbeiter „No Food“ auf die Schüssel. Sicherheitshalber. Nicht, dass jemand den Inhalt noch für Beluga-Linsen hält. So sehen sie nämlich in etwa aus, die „EcoFlakes“: kleine runde Flocken aus nicht recycelbarem, geschreddertem und gepresstem Plastik, mit denen Varga und Susewind den Straßenbau revolutionieren wollen. Für eine nachhaltigere Asphaltproduktion und für grünere Verkehrswege – auch wenn mancherorts die Ampel dafür noch auf Rot steht.

Auslöser für die Idee vom grünen Belag: die Erdbeben-Katastrophe in Nepal

Angefangen hatte alles vor fast zehn Jahren unter tragischen Umständen: Fabien Matthias, ein enger Freund von Jonas Varga, lebte damals als Englischlehrer in Nepal, als im Frühjahr 2015 die verheerenden Erdbeben 9.000 Menschenleben forderten und eine ganze Region in Schutt und Asche legten. Varga reiste ins Katastrophengebiet, um Matthias und seiner neu gegründeten NGO beim Wiederaufbau zu helfen. Angesichts der riesigen Müllberge und der miserablen Verkehrswege kam ihm eine Idee.

Um die Abfallberge zu minimieren und die Straßen wieder aufzubauen, mischten sie dort klein geschredderten Kunststoff von den Deponien in frischen Asphalt. Und Varga dachte sich: Warum nicht auch in Deutschland?

Um zu verstehen, wie das Prinzip funktioniert, muss man zunächst ein wenig in die Materie von industriell erzeugtem Asphalt eintauchen. Vereinfacht gesagt besteht Asphalt aus Steinen und einem Bindemittel, einem Kleber namens Bitumen: ein recht zähflüssiges Produkt, das aus Erdöl gewonnen wird und das man lieber nicht auf die Haut oder die Kleidung bekommen sollte. Geht nur schwer wieder ab.

Für mehr Haltbarkeit und Widerstandsfähigkeit mischt man dem Stein-Bitumen-Gemisch als Zusatz kleine Plastik flocken bei; die Flocken werden für herkömmlichen Asphalt extra neu produziert. Und genau hier setzte Varga mit seinem Start-up „ecopals“ an. Warum braucht es dafür neuen Kunststoff? Warum nicht Altplastik nehmen, wo doch eh so viel herumliegt und nicht wiederaufbereitet werden kann?

Mag die Nation auch noch so fleißig sammeln und trennen: Von den 5,7 Millionen Tonnen Plastikmüll, die 2021 in Deutschland anfielen, wurden laut Umweltbundesamt mit 64 Prozent knapp zwei Drittel der Gesamtmenge nicht recycelt, sondern landeten in der Verbrennungsanlage. Hauptgrund dafür ist die Beschaffenheit aus unterschiedlichem, nur schwer voneinander zu trennendem Kunststoffmix. Wie etwa die robusten Deckelfolien von manchen Schnittkäse-Verpackungen, die aus mehreren, völlig unterschiedlichen Plastikarten bestehen und daher nicht wiederverwertet werden können. Für Varga und seinen Mitstreiter Susewind wurden sie nun zum wertvollen Rohstoff. Wenngleich die beiden auf ihrem Weg einige Umleitungen in Kauf nehmen mussten, immer wieder ausgebremst wurden und gerne auch in Schlaglöchern hängen blieben. Und manchmal fuhren sie auch gegen die Wand.

Von Experten wurden Varga und seine Mitstreiter anfangs belächelt. Zu Unrecht.

„Gerade am Anfang waren wir noch recht grün hinter den Ohren“, sagt Justus Susewind, „da glaubten wir, Baufirmen und öffentliche Auftraggeber von unserer Idee begeistern zu können, indem wir ihnen ganz einfach ein PDF schickten.“ Was natürlich nicht wirklich überzeugend ankam. Fragten sie bei Kommunen an, um marode Straßen mit ihrem neuen Produkt sanieren zu dürfen, wurden sie – wenn es gut lief – milde belächelt und wieder heimgeschickt. Und als sie einen Chemieprofessor an der Uni um eine Einschätzung baten, meinte der nur, sie sollten ihre dämliche Idee vergessen – wird eh nix.

Ein wichtiger Schritt war dann die Kooperation mit der Universität Kassel und dem Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie (ICT). Dort hatte man schon vor vielen Jahren mit Plastik als Bitumenersatz im Straßenbau experimentiert, war aber nicht bis zur Serienreife durchgedrungen. Schnell bildete sich ein hochqualifiziertes Team, um anhand von intensiven Belastungstests die richtige Zusammensetzung zu finden. Wie viel Polypropylen (PP) braucht es für den Asphaltzusatz, wie viel Polyethylen (PE), welchen Anteil der jeweiligen Untersorten? Die genaue Rezeptur der knapp zehn Kunststoffarten in ihren EcoFlakes wollen die Start-up-Gründer freilich nicht verraten. Es erinnert ein bisschen an eine Brauerei, wo auch strengstes Betriebsgeheimnis bleibt, wie das Pils zusammengerührt ist und wie das Weißbier.

Mit permanenten Laboranalysen, nach denen der mit EcoFlakes versetzte Asphalt keinerlei Qualitätsverluste gegenüber herkömmlichem Straßenbelag aufweist, haben Varga und Susewind nun auch viele Skeptiker überzeugt. Auch, was die Ökobilanz angeht. Schließlich ersetzt das Altplastik nicht nur den neuen Kunststoff, es ermöglicht auch einen um rund sieben Prozent geringeren Anteil an Bitumen. Noch konkreter in Sachen Nachhaltigkeit wird es mit Vargas folgendem Rechenbeispiel: Ein Kilometer zweispurige Straße, Fahrbahnbreite je drei Meter, macht 6.000 Quadratmeter. Bei einer Asphaltdicke von zwölf Zentimetern beträgt das Volumen 720 Kubikmeter.

Die robusten Deckelfolien von manchen Schnittkäse-Verpackungen bestehen aus mehreren unterschiedlichen Plastikarten und lassen sich daher nicht recyceln. Für Varga und seinen Mitstreiter Susewind werden sie zum wertvollen Rohstoff. Aufgrund der ressourcenschonenden Produktion werden pro Tonne Flakes rund 3,2 Tonnen Kohlendioxid weniger verbraucht.

Folgen – gemäß der Formel 100 Kubikmeter für eine Tonne EcoFlakes – 7,2 Tonnen EcoFlakes. Und da laut Susewind aufgrund der ressourcenschonenden Produktion pro Tonne Flakes rund 3,2 Tonnen Kohlendioxid weniger verbraucht werden, bleibt eine Gesamtersparnis von rund 23 Tonnen Kohlendioxid. Klingt wie Textaufgabe, 8. Klasse Gymnasium. Und kostengünstiger ist es auch: Weil kein neues Plastik produziert werden muss, ist Asphalt mit EcoFlakes im Schnitt um rund fünf Prozent billiger.

14023, 14040, 14044 – EcoFlakes erfüllen auch DIN-Normen

Zum konsequenten Umweltschutz wird jede Charge zudem einer speziellen Röntgenfluoreszenzanalyse unterzogen, um den Inhalt auf unerwünschte Beigaben wie Schwermetalle oder PVC zu kontrollieren. Es muss schließlich alles sauber bleiben. Die Standards der Öko-Lebenszyklus analyse gemäß DIN 14040 und 14044 erfüllen die EcoFlakes-Linsen, die manchmal auch in Pellets-Form gepresst werden, übrigens inzwischen auch. Ebenso wie natürlich auch die Voraussetzungen für polymermodifiziertes Bitumen. DIN 14023.

In rund 30 Straßenabschnitten durfte ecopals den Innovationsasphalt bereits einbauen,
in Chemnitz, Kiel oder eben auch im Norden Potsdams an der B 273 – wenngleich in manchen Gemeinden immer noch Widerstand herrscht. Ob es an zu großer Bürokratie liegt oder an fehlender Bereitschaft, vielleicht auch am Einfluss der mächtigen Asphalt-Lobby, auch Varga und Susewind können das schwer beurteilen. Ihr nächstes Ziel ist nun die Genehmigung für Sanierungsarbeiten an Autobahnen. Das wäre natürlich ein Ritterschlag, eine Benchmark und die allerbeste Visitenkarte bei ihren Expansionsgedanken ins europäische Ausland, um damit zu werben: Wir können deutsche Autobahn.

Zehn Mitarbeitende hat ecopals inzwischen, nach der Anschubhilfe von 150.000 Euro durch das ICT und einem Start-up-Stipendium haben der frühere Economics- und Corporate-Management-Student Varga und seine Mitstreiter inzwischen Investoren mit an Bord, aus den Bereichen Technologie, Gründerhilfe und Venture-Capital. Nach bisher zwei Millionen Euro an Fördergeldern sollen nun vier weitere Millionen dazukommen. Ein großes Netzwerk an Fachleuten steht mit seiner Expertise zur Seite. Wie hoch der Anteil von EcoFlakes- Asphalt in der deutschen und europäischen Verkehrsinfrastruktur in zehn Jahren sein wird, steht noch weit oben in den Sternen. Und doch spricht viel dafür, dass sie hier unten mit ihrer Vision noch viel auf die Straße bringen.

 

Dieser Artikel ist zuerst in Character erschienen, dem Gesellschaftsmagazin der Bethmann Bank. Weitere Informationen zur aktuelen Ausgabe finden Sie auf unserer Webseite.

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