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Nachhaltigkeit für alle

Text von Maria Kessen
07.09.2022
Nachhaltigkeit

Klimagerechtes Leben in einer Großstadt – das ist oftmals ein Privileg für Gutverdiener. Ein solidarisches Wohnprojekt in Paris zeigt, wie zukunftsorientiertes Bauen, Leben und Konsumieren für alle funktionieren kann.

Das 19. Pariser Arrondissement Buttes-Chaumont hat einiges zu bieten: weitläufige Parks, belebte Straßen und das einladende Ufer des Canal Saint-Denis. Entlang der Rue de l’Ourcq, verlaufen die stillgelegten Schienen der städtischen Ringbahn. Die bunt gestaltete Mauer der alten Gleis-Promenade fällt Fußgängern sofort ins Auge. Was sich dahinter verbirgt, ist von der Straße aus allerdings kaum zu erahnen. Durch eine Unterführung neben der Bushaltestelle „Ourcq – Jean Jaurès“, gelangen Besucher auf die andere Seite der Gleisterrasse. Dort erwartet sie eine Überraschung: zwei hochmoderne Holzbauten inklusive Restaurant, Terrasse und großem Gemüsegarten. Eher untypisch für die von Altbauten gesäumten Straßenschluchten der Großstadt.  

La Ferme du Rail – der Schienenbauernhof – nennt sich das innovative Bauprojekt. Ökologische Landwirtschaft, sozialer Wohnungsbau und ein ressourcenschonendes Grundkonzept verbinden sich hier zu einem nachhaltigen Komplettpaket. Ganz im Sinne der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Die Metropole gehört dank ihrer ambitionierten Pläne mittlerweile zu den Vorreitern der klimafreundlichen Stadtentwicklung. Das freut nicht nur die Natur, sondern auch die Bewohner. Allerdings nur die, die sich die Stadt überhaupt noch leisten können. Nach einer Erhebung aus dem Jahr 2019 zählen die Pariser Mieten zu den fünf höchsten weltweit. „La Ferme du Rail“ will diesem Trend entgegenwirken.

Neuanfang in der Gemeinschaft

Entstanden ist die Projektidee 2014 im Rahmen des städtischen Bau-Wettbewerbs “Réinventer Paris“. Gemeinsam mit der Wohnraum-Initiative “Bail Pour Tous” verwandelte ein Team aus Architekten und Landschaftsgärtnern die einstige Brachfläche in eine urbane Oase mit insgesamt 20 Wohneinheiten. In fünf davon leben Gartenbau-Studierende. Die übrigen Zimmer stehen Personen aus prekären Lebenssituationen zur Verfügung, beispielsweise Langzeitarbeitslosen oder Obdachlosen. Die Integrations-Initiative „Travail & Vie“ setzt sich dafür ein, dass sie im Schienenbauernhof eine kostenlose Unterkunft finden und als Gegenleistung auf der Farm arbeiten. Sie erlernen praktische Fähigkeiten, die den „Wiedereinstieg in bezahlte Tätigkeiten“ ermöglichen sollen, so die Initiative. Diese Solidargemeinschaft macht den Kern des Schienenbauernhofs aus, von dem aber nicht nur die Bewohner, sondern auch die unmittelbare Nachbarschaft profitiert: Die Farm ist öffentlich zugänglich – sozialer Treffpunkt und Erholungsort in Einem.

Nach allen Regeln der Natur

Das Projekt basiert zudem auf dem Konzept der „Circular Economy“: Die Gebäude sind zu 90 Prozent aus recycelten Werkstoffen und biologisch abbaubaren Materialien konstruiert. Außerdem gut isoliert und im Winter durch Holzpellets beheizt. Aber auch die Abfallprodukte und CO2-Emissionen werden minimal gehalten, Ressourcen ganzheitlich verwertet und, wenn möglich, recycelt. Den Dünger für die Pflanzen gewinnen die Farm-Bewohner beispielsweise aus den Grün-Abfällen umliegender Haushalte und Gastronomiebetriebe. Geerntetes Obst und Gemüse wird direkt im hauseigenen Restaurant „La passage à niveau“ weiterverarbeitet oder im Hofladen an Besucher verkauft. „Der Mensch ist zentraler Bestandteil dieses Ökosystems. Wir müssen es schaffen, menschliche Bedürfnisse mit natürlichen Stoffkreisläufen in Einklang zu bringen“, sagt Mélanie Drevet, die hauptverantwortliche Landschaftsarchitektin des Schienenbauernhofs.

Auch ein effizienter Wasserkreislauf ist Teil der Nachhaltigkeitsstrategie: Gegenüber dem Eingang, schräg vor dem Wohnhaus, ist ein Niederschlag-Auffangbecken in den Boden eingelassen. Zur Bewässerung der Beete nutzen die Bewohner ausschließlich das dort aufbereitete Regenwasser. Gudrun Gräbe, aus dem Nachhaltigkeitsteam des Fraunhofer Institut für Chemische Technologie betont, wie wichtig dieses Kreislauf-Konzept gerade in Innenstädten ist: „Speziell die Wasserspeicherung und -wiederverwendung muss stark vorangetrieben werden. Wir bewegen uns momentan in vielen Regionen auf eine Knappheit zu und brauchen in diesem Bereich dringend Lösungen.“ Permakultur, eine besonders ressourcenschonende Anbau-Technik, reduziert den Wasserverbrauch des Schienenbauernhofs zusätzlich.

Neues Grün für die Stadt

Obwohl das Gelände nur 1.500 Quadratmeter umfasst, kommt der Schienenbauernhof dank begrünter Fassaden und Dächer auf eine bepflanzte Gesamtfläche von fast 1.700 Quadratmetern. So gibt es neben den ausladenden Gemüsebeeten im Innenhof noch eine Pilzfarm im Keller des Wohnhauses. Der komplett verglaste zweite Stock des Restaurant-Gebäudes dient zudem als Gewächshaus. Das Gelände ist gesäumt von bepflanzten Böschungen. Kürbisse, Apfelbäume und verschiedene Kräuter wachsen entlang der Gleis-Promenade. Das viele Grün ist nicht nur schön anzusehen. Urban Gardening hat sowohl ökologische als auch ökonomische Vorteile: „Je größer der Maßstab, in dem man anbaut und begrünt, desto größer das Potenzial“, sagt Uwe Ferber, Geschäftsführer der StadtLand GmbH, einer Beratungsfirma für Stadt- und Regionalplanung. Seine Beobachtung: „Paris ist da sehr weit voraus. Dort werden bereits großflächig Dächer und städtische Räume landwirtschaftlich genutzt.“

La Ferme du Rail soll nicht das einzige nachhaltige und gleichzeitig möglichst auch soziale Wohnprojekt in Paris bleiben. Weitere 23 ungenutzte Flächen werden künftig im Rahmen der Initiative „Réinventer Paris“ neu bebaut. Ein Schritt in die richtige Richtung, findet Stadtplaner Ferber: „Solche Leuchtturmprojekte sind schön, um zu zeigen, was möglich ist. Aber sie dürfen nicht nur als Alibi genutzt werden, um die eigentlichen Strukturprobleme zu verdecken“, sagt er. Für ihn ist die sinnvolle Nutzung brachliegender Räume entscheidend für nachhaltige Stadtentwicklung. „Wichtig ist dabei, die Flächen multifunktional zu nutzen“, erklärt Ferber. Ein Gelände kann etwa gleichzeitig für Wasserrückhalt, Energieerzeugung und als Spielplatz genutzt werden.“

Der Pariser Schienenbauernhof ist also ein gutes Beispiel, wie nachhaltiges Bauen, städtische Landwirtschaft und soziale Integration in einem Projekt vereint werden können. „Damit möglichst viele Menschen davon profitieren, dürfen solche nachhaltigen Entwicklungsprojekte nicht die Ausnahme bleiben“, fordert Ferber.

3,5 Millionen Euro
kostete La Ferme du Rail in Paris
Quelle: www.melaniedrevet-paysage.eu

90 Prozent
der verwendeten Baumaterialien sind recycelt oder biologisch abbaubar.
Quelle: www.fermedurail.org

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