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„Ich freue mich immer, wenn sich das Windrad dreht“

Text von Maria Kessen
08.04.2022
Nachhaltigkeit

Nach dem Ausstieg aus der Atomkraft und der Kohle braucht Deutschland jede Menge Strom aus Windenergie. Viele Bürger mögen aber keine Windräder in ihrer Nachbarschaft. Es sei denn, sie haben selbst investiert. Das zeigen Beispiele aus zwei Orten in Westfalen.

Wenn Franz van Üüm im westfälischen Gescher vor seinem Haus steht, blickt er auf 16 Windräder. Der nächstgelegene dreiflügelige Rotor dreht sich nur 330 Meter von seiner Haustür entfernt. Als der Turm vor mehr als 20 Jahren aufgestellt wurde, war van Üüm davon nicht angetan. Ihn störten der Schlagschatten, der bei Sonnenschein auf das Grundstück fiel, und der permanente Brummton. „Heute wäre es gar nicht erlaubt, ohne Zustimmung der Anwohner eine Windkraftanlage so nah an ein Wohnhaus zu bauen,“ sagt van Üüm.

Statt sich zu ärgern, hat van Üüm inzwischen aus der Not eine Tugend gemacht – man könnte auch sagen: ein Geschäft. Seit dem Jahr 2012 ist er Geschäftsführer der Gescher Bürgerwind GmbH & Co. KG und damit beruflich ein Befürworter von Windrädern. Das Unternehmen hat 42 Gesellschafter, darunter viele Landwirte und die Stadt Gescher. In den vergangenen Jahren hat die Bürgerwind-Gesellschaft insgesamt zehn Windräder in der Umgebung gebaut. Sie investierte rund 60 Millionen Euro, vor allem in den Bau der Türme, aber auch in Gutachten, Zuwege, Kabel und andere Infrastruktur. Die Bürgerwind-Anlagen erzeugen im Durchschnitt etwa 100 Millionen Kilowatt Strom pro Jahr – genug, um ungefähr 25.000 Drei-Personen-Haushalte zu versorgen. Ziel der Gesellschafter war es, auswärtige Kapitalgeber außen vor zu lassen und die Gewinne in der Region zu halten. Um Bürger am Windpark finanziell zu beteiligen, gründeten van Üüm und die Mitgesellschafter eine Energiegenossenschaft. „Wir wollten die Bürger involvieren, um eine bessere Akzeptanz zu schaffen,“ erklärt er.

Im Jahr 2019 konnten sich interessierte Bürgerinnen und Bürger aus Gescher für eine Genossenschaftsbeteiligung an einer Windkraftanlage anmelden. Ihnen wurde eine jährliche Dividende von 4,1 Prozent nach Steuern in Aussicht gestellt. Offenbar ein gutes Argument: „Die Nachfrage war so groß, dass es das Angebot weit übertraf,“ erinnert sich van Üüm. Die erste Finanzierungsrunde war schon nach 45 Minuten vorbei. Wer seinerzeit nicht zum Zuge kam, hatte kurz darauf die nächste Chance. Im Jahr 2020 wurde eine weitere Anlage zur Beteiligung ausgeschrieben. Die Folge: Windkraftanlagen sind in Gescher gern gesehen – Klagen darüber sind selten.

Wie wichtig die Bürgerbeteiligung bei der Errichtung von Windparks ist, lässt sich rund 140 Kilometer östlich von Gescher erfahren. Umgeben von rund 50 Windkraftanlagen, die wenigen Investoren gehören, liegt die Stadt Borchen. Dort bekämpft die Bürgerinitiative Gegenwind Borchen den weiteren Ausbau der Windenergie. "Es reicht! Borchen hat seinen Beitrag zur Stromwende geleistet,“ heißt es auf der Homepage der Initiatoren. Viele Menschen, die in der Region wohnen, fühlen sich umzingelt von den vielen Türmen und klagen über eine Zerstörung der Landschaft. Andere berichten von gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch Lärm, vor allem bei starkem Wind, und Kopfschmerzen durch Infraschall, einer nicht hörbaren Komponente der Emission.

Volker Tschischke, Gründungsmitglied der Bürgerinitiative, kritisiert, dass die Windkraftanlagenbetreiber die Anwohner mit dem Bau der Anlagen vor vollendete Tatsachen gestellt hätten. „Hätten wir Bürger von Anfang an mitgewirkt und Einfluss auf die Entfernungen nehmen können, hätte dies viel bewirken können. Auch eine finanzielle Beteiligung hätte uns bei der Akzeptanz geholfen,“ sagt Tschischke. „Dafür ist es nun zu spät.“

Es ist offenbar entscheidend, ob Menschen für die entstehenden Nachteile beim Bau eines Windparks einen finanziellen Ausgleich bekommen und sich als Teil der Lösung sehen – oder als Verlierer, die den Preis der Energiewende für andere mitzahlen müssen. Diese Erkenntnis könnte in den kommenden Jahren helfen. Denn nach dem beschlossenen Ausstieg aus der Kohle braucht Deutschland viel Strom aus Windkraft. Im Jahr 2021 verabschiedete der Bundestag unter der damaligen schwarz-roten Regierung ein Aktionsprogramm, um den Ausbau der Windenergie bundesweit voranzutreiben. Dabei standen auch die Gemeinden im Fokus: Sie sollen finanziell an den Gewinnen aus dem Betrieb von Windkraftanlagen beteiligt werden.

Der richtige Weg, findet Nicole Lüdi, Referentin der Fachagentur für Windenergie an Land. „Die finanzielle Teilhabe von Kommunen und Bürgern wirkt sich positiv auf die Akzeptanz der Anlagen vor Ort aus.“ Eine Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2021 zeigt: Fast 80 Prozent der Befragten finden es sehr wichtig, dass die Kommunen im Falle eines Windenergieprojekts in ihrem Ort finanziell spürbar profitieren.

Wenn Menschen noch direkter von Windkraftanlagen profitieren, weil sie persönlich direkt beteiligt sind, können sie den Anblick der Anlagen mitunter sogar regelrecht genießen. Eine von ihnen ist die Maria-Christina Grösbrink aus Gescher, die gemeinsam mit ihrem Mann einen Bauernhof betreibt. Sie und ihr Mann haben in eine Windkraftanlage investiert, die nur 800 Meter vom Hof entfernt steht. „Ich freue mich immer, wenn ich sehe, dass sich das Windrad dreht“, sagt Grösbrink. „Weil ich weiß, dass ich davon profitiere.“

 

29.608 Windkraftanlagen
an Land in Deutschland im Jahr 2021
Quelle: Bundesverband Windenergie

 

23,8 Prozent
Anteil der Windenergie am deutschen Bruttostromverbrauch im Jahr 2020
Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz

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