Grüne Oasen in der Vertikalen
Urbanisierung und eine natürliche Umgebung müssen sich nicht ausschließen. Intelligente Fassadenkonstruktionen verwandeln triste Betonwände in sauerstoffspendende Ökosysteme – auch ohne grünen Daumen.
Im Jahr 2030 werden nach Berechnungen der Vereinten Nationen voraussichtlich 5,2 Milliarden Menschen im urbanen Umfeld leben – Tendenz steigend. Gleichzeitig klettern die Temperaturen stetig nach oben: In seinem jüngsten Klimabericht prognostiziert der EU-Erdbeobachtungsdienst Copernicus, dass 2024 das weltweit wärmste Jahr seit Aufzeichnungsbeginn wird. Unter Hitzetagen mit Temperaturen über 30 Grad Celsius leiden besonders Stadtbewohner, denn bebaute, betonierte und asphaltierte Flächen heizen sich vergleichsweise stark auf. Gesundheitliche Probleme können die Folge sein. Ein wenig Abkühlung und zugleich bessere Luft versprechen grüne Immobilienprojekte.
Smarte Pflanzenkonstruktion zeigen Wirkungen
Singapur macht mit dem Green Plan 2030 vor, wie das geht: Der Stadtstaat möchte bis 2030 eine Million Bäume pflanzen und mindestens 80 Prozent seiner Gebäude mit Begrünungssystemen ausstatten. „Bepflanzte Fassaden liefern auf wenig Grundfläche viel Grün. In Asien ist diese grüne Architektur schon viel verbreiteter als bei uns“, zieht Christoph Tippmann den Vergleich zu Deutschland. Der Elektrotechniker hat mit seinem 2023 gegründeten Start-up 90green solutions intelligente vertikale Begrünungsmodule auf den Markt gebracht. Integrierte Sensoren steuern die Bewässerung und liefern jede Menge Umweltdaten – und damit handfeste Argumente, dass grüne Fassaden einen Beitrag zum Klimaschutz leisten können.
Das System von 90green solutions besteht aus rund 60 mal 60 Zentimeter großen Leichtbauelementen, die mit Vliesstoff bespannt sind. In den mit Pflanzsubstrat befüllten Taschen des Textils finden die Pflanzen ihren Platz. Außerdem sind hier die Bewässerungsschläuche und Sensoren eingearbeitet. Auf der Rückseite der Platten befinden sich Schienen, die die Elemente mit der Unterkonstruktion aus Metall verbinden. Diese wiederum befestigt das Start-up an der Gebäudehülle. „Das funktioniert an Beton- und Klinkersteinwänden ebenso gut wie an Gebäuden mit Holz- und Metallverkleidung oder nachträglich gedämmten Fassaden“, erläutert Tippmann. Die Verankerungsmethode passt das Start-up je nach Gebäudesubstanz individuell an. Ganz wichtig: Zwischen Hausfassade und Wandbegrünung bleibt immer ein Spalt von mehreren Zentimetern. Er sorgt für ausreichend Luftzirkulation, damit sich keine Feuchtigkeit staut.
Tippmanns Konstruktion wiegt pro Quadratmeter rund 25 bis 30 Kilo. „Unsere Elemente wiegen bis zu einem Zehntel von dem, was klassische Wandbegrünungen auf Basis von Blumenkästen auf die Waage bringen“, schätzt Tippmann. In der Regel greift das System auf den hauseigenen Wasser- und Stromanschluss zurück. Es lässt sich aber auch autark mit einem Solarpanel und einem Wassertank betreiben. Kernelement der Anlage ist die Steuereinheit. Sie lädt die Sensordaten in eine Cloud und ergänzt aktuelle Wetterdaten. Daraus ermittelt das System die ideale und damit ressourcenschonende Versorgung der Pflanzen mit Wasser und Nährstoffen.
Natur pur für Fassaden
90green solutions setzt auf robuste und ganzjährig Blätter tragende Stauden wie Heuchera. Felix Mollenhauer vom Bundesverband GebäudeGrün e. V. (BuGG) empfiehlt außerdem Gräser, Farne und Kleingehölze, die wenig Wurzelraum benötigen. Der Pflegeaufwand halte sich in Grenzen. „Meist reicht es, die Pflanzen zwei- bis viermal im Jahr zurückzuschneiden“, erklärt Mollenhauer.
Vor vermehrtem Besuch von Spinnen und Käfern in den eigenen vier Wänden müsse man sich nicht fürchten. „Wir haben bislang nicht die Erfahrung gemacht, dass signifikant mehr Insekten ins Gebäudeinnere kommen“, sagt Mollenhauer. Er hebt die positiven Effekte hervor: „Begrünte Fassaden bieten Tieren dringend benötigten Lebensraum und tragen damit zur Artenvielfalt im städtischen Raum bei.“
Vorteile pflanzenreicher Metropolen
Nicht nur die Tierwelt profitiert von den grünen Wänden: Das über die Blätter der Pflanzen verdunstende Wasser wirkt wie eine natürliche Klimaanlage und sorgt dafür, dass sich die Umgebung weniger stark aufheizt. Zusätzlich filtert das Blattgrün Schadstoffe wie Stickstoff- und Schwefeldioxyd sowie Ozon und Feinstaub aus der Luft. Mit dem smarten System von 90green solutions lässt sich zudem genau messen und ausrechnen, wie viel CO2 die grünen Wände binden. Tippmann: „Städte, die unsere Module nutzen, könnten zum Beispiel im Rathaus auf einem Monitor anzeigen lassen, wie viel CO2 sie mithilfe der Fassadenbegrünung kompensieren.“ Zusätzlich liefern die Sensoren Daten zur aktuellen Konzentration von CO2, Sauerstoff und Feinstaub in der Umgebungsluft.
Dass sich die schattenspendende Vegetation auch auf die Temperaturen in den begrünten Häusern auswirkt, haben Forschende an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf ermittelt. Das Ergebnis: Zwischen Begrünung und Fassade liegt die Durchschnittstemperatur bis zu 1,47 Grad niedriger als vor den Rankgittern. Der deutsche Naturschutzbund Nabu nennt auf seiner Website noch viel deutlichere Zahlen: Während sich bepflanzte Wände höchstens auf bis zu 30 Grad aufheizen, erreichen ungeschützte Fassaden bis zu 60 Grad. „Die Pflanzen verschatten die Hauswände. Dadurch treffen weniger Wärmestrahlen auf das Gebäude, es heizt sich nicht so stark auf und die Innenräume müssen weniger gekühlt werden“, sagt BuGG-Experte Mollenhauer.
Und auch im Winter kommen Hausbesitzern die isolierenden Eigenschaften des Blattwerks zugute: Gebäude mit grüner Hülle kühlen in der Regel langsamer aus, was Heizkosten reduziert. Zusätzlich dämpft dichtes Blattwerk die Umgebungsgeräusche – laut Nabu um bis zu zehn Dezibel.
Alles im grünen Bereich
Schäden an der Hausfassade müssen Gebäudeinhaber mit Systemen wie etwa von 90green solutions nicht befürchten. Im Gegensatz zu selbstklimmenden Pflanzen wie Efeu und Wilder Wein, die direkt an der Fassade emporwachsen und poröse Teile absprengen können, haben wandgebundene Begrünungssysteme und auch bepflanzte Kletterhilfen ausreichend Abstand zur Wand. „Wandbegrünungen schützen sogar die Fassade, zum Beispiel vor Witterungseinflüssen wie Hagel oder unerwünschten Graffitis“, erklärt Mollenhauer. Bei der baurechtlichen Bewertung von Fassadenbegrünungen spiele nach Angaben des Experten vor allem der Brandschutz eine Rolle. Er empfiehlt, sich fachliche Beratung zu holen. Was zudem viele nicht wissen: Zahlreiche Städte und Kommunen fördern die Gebäudebegrünung.
Vier weitere Systeme für vertikale Grünflächen
Alternative 1: Greencable
Bei der bodengebundenen Fassadenbegrünung mit Kletterhilfe wachsen die Pflanzen vor der Hauswand aus der Erde. Das Unternehmen Carl Stahl ARC arbeitet mit an der Wand befestigten Edelstahlnetzen oder -seilen, an denen sich Blauregen, Clematis oder Kletterrosen emporwinden können. Diese Systeme sind nicht an eine Bewässerung angeschlossen und vergleichsweise kostengünstig.
Alternative 2: Plantbox
Balkone, Terrassen und Innenhöfe bekommen mit den vertikal stapelbaren Pflanzkisten des Schweizer Unternehmens Skygardens einen grünen Look. Das System eignet sich auch für temporäre Projekte und kann gemietet werden. Mit entsprechender Auffangschale ist eine Nutzung in Innenräumen möglich.
Alternative 3: Moosmoos Greenovation
Bergermann Floristik macht Moose mit einem speziellen Präparationsverfahren haltbar. Die moosbehangenen Wandpaneele sollen nach Unternehmensangaben trotz Konservierung ihre Fähigkeit behalten, die Luftfeuchtigkeit zu regulieren. Das System benötigt weder Wasser noch Dünger oder Pflege.
Alternative 4: Living Panels
Die Living Panels sind das Ergebnis eines internationalen Forschungsprojekts, das das Spin-off Naturebase zur Marktreife gebracht hat. Besonders stolz ist das Wiener Unternehmen auf die schnelle Montage der modular aufgebauten Begrünungselemente und den Vegetationsträger, der Wasser- und Nährstoffe besonders gut speichern soll.
146.000 Quadratmeter
Fassadenbegrünung und 8.700.000 Quadratmeter Dachbegrünung legten die Deutschen 2022 an.
Quelle: BuGG-Marktreport Gebäudegrün 2023
41,2 Grad
zeichneten die Wetterstationen am 25. Juli 2019 in Duisburg-Baerl und Tönisvorst auf – bis heute deutschlandweiter Rekord.
Quelle: Deutscher Wetterdienst
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