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Die schwimmende Stadt

Text von Johanna Stein
21.12.2022
Nachhaltigkeit

Je weiter der Klimawandel voranschreitet, desto höher steigt auch der Meeresspiegel. Das stellt Küstenregionen vor große Probleme. Eine innovative Idee ebnet nun möglicherweise den Weg in eine neue Zukunft: Die erste nachhaltige Stadt, die auf dem Meer schwimmt.

An schönen Tagen zeichnet sich an der norditalienischen Küstenstadt Venedig ein idyllisches Bild ab: Touristen schlendern durch schmale Gassen, Tauben flattern durch die Lüfte und Gondolieri schippern mit kleinen Booten über Kanäle. Im Jahr 2019 schwenkte dieses Bild plötzlich in ein düsteres, bedrohliches Szenario um: Sturm und Starkregen suchten die Stadt heim. Aus den Kanälen trat Meerwasser über die Ufer und flutete Gassen, Plätze und Gebäude. Mancherorts fiel dazu noch der Strom aus – ein Untergangsszenario wie in einem Katastrophenfilm.

Seit Jahren warnen Wissenschaftler davor, dass Küstenstädte wie Venedig, Amsterdam, Alexandria, Jakarta oder Bangkok immer häufiger Überschwemmungen erleben werden. Der Meeresspiegel steigt jedes Jahr um rund zwei bis drei Millimeter an und bedroht den Lebensraum von Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Das Nachrichtenportal Nature.com prognostiziert: Bis 2050 werden wohl 300 Millionen Menschen in Gebieten wohnen, die mindestens einmal im Jahr überflutet werden. Allein in Deutschland leben derzeit rund 3,2 Millionen Menschen in hochwassergefährdeten Küstengebieten. Schutzmaßnahmen wie Deiche, Dämme und Sperrwerke sollen Regionen vielerorts vor dem Wasser abschirmen. Eine futuristische Konstruktion zeigt nun eine neue Möglichkeit auf: Ganze Städte werden aufs Wasser verlegt.

Oceanix City heißt die erste nachhaltige, schwimmende Stadt, die ein Team aus Designern, Ingenieuren und Nachhaltigkeitsexperten unter Leitung des New Yorker Designbüros Oceanix entworfen hat. Sie besteht aus einzelnen, rund zwei Hektar großen Betonplatten, die durch Brücken miteinander verbunden sind. Diese Platten sind mit Stützstangen am Meeresboden befestigt, entlang derer sie sich mit dem Meeresspiegel auf und ab bewegen können. Damit die Inseln nicht schaukeln, befindet sich ein Teil der Stockwerke jeder Plattform unter der Wasserlinie. Außerdem verteilen sich in ihrem Bauch Tanks, Rohrleitungen und Maschinen so, dass die Konstruktion immer in der Waagerechten bleibt. Die fertig konstruierten Inseln sollen am Ende stabil genug sein, um Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Tsunamis und Wirbelstürme der Kategorie fünf mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 250 Kilometern pro Stunde zu überstehen.

„Ein erster Prototyp wird ab dem Jahr 2023 in Südkorea gebaut“, erzählt Itai Madamombe, Mitgründerin von Oceanix. Für das Projekt kooperiert das Designbüro mit der Hafenstadt Busan und dem Programm der Vereinten Nationen UN-Habitat. Bis zum Jahr 2027 entstehen nun im Hafen von Busan drei Plattformen mit einer Fläche von mehr als sechs Hektar, was in etwa der Größe von neun Fußballfeldern entspricht. Die Projektkosten schätzt Madamombe auf 200 Millionen US-Dollar, das Geld wird bei privaten Investoren eingesammelt. Sind die ersten drei Inseln erst einmal fertig, können nach und nach weitere Platten hinzugefügt werden, bis die Stadt irgendwann aus mehr als 20 Teilen besteht und Platz für bis zu 100.000 Menschen bietet.

Busan gilt als einer der größten Container-Umschlagplätze weltweit und ist international für Kunst, Kultur und Handel bekannt. Das spiegelt sich im Design der schwimmenden Stadt wider: Entwürfe zeigen eine breite Fußgängerzone mit kunstvoll bemalten Hauswänden. Pflanzen, die Häuserfassaden säumen und Restaurants, die mit großzügigen Terrassen am Ufer zum Verweilen einladen.

Obwohl das Konzept an das Stadtdesign von Busan angepasst ist, gibt es einen großen Unterschied: Busan ist eine große, trubelige Stadt mit mehr als drei Millionen Einwohnern und hohen Wolkenkratzern. Oceanix hat diesen Großstadtcharakter nicht, die Bauten sind mit maximal sieben Stockwerken deutlich niedriger. Die Gebäude bieten einen Mix aus Büros, Geschäften und Wohnungen. So können dort zunächst bis zu 12.000 Menschen wohnen, leben und arbeiten.

Oceanix City unterscheidet sich noch in einem weiteren Punkt von anderen Städten: Die Erbauer legen einen großen Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit. Mehrere geschlossene Kreislaufsysteme ermöglichen den Inselbewohnern ein größtenteils autarkes und emissionsfreies Leben. Für den Bau der Plattformen sieht Oceanix ein Material namens Biorock vor. Es entzieht dem Wasser Mineralien und bietet Algen und anderen Pflanzen einen Nährboden. Für die Energieversorgung auf der Insel werden Solaranlagen auf den Gebäudedächern installiert. Die Infrastruktur ist auf nachhaltige Transportmittel ausgelegt, zum Beispiel dürfen auf den Inseln ausschließlich Elektrofahrzeuge fahren. Müll, der in der Stadt erzeugt wird, wird zu hundert Prozent recycelt. Und für den Anbau von Obst und Gemüse gibt es Gewächshäuser. Sogar das Ab- und Trinkwasser wird die Insel unabhängig von der Hafenstadt Busan aufbereiten. „Aus technologischer Sicht war die größte Herausforderung bei der Planung, die ganzen Systeme so in den Entwurf zu integrieren, dass sie maximal effizient sind“, erzählt Madamombe.

Inzwischen ist die Planungsphase abgeschlossen. „Das Design und die Technologie sind bereit“, erklärt Madamombe. Der Bau kann also beginnen. Um Kosten zu sparen, werden die drei Betonplatten an Land vorgefertigt und erst anschließend auf das Wasser gesetzt. Auch die Gebäude werden an Land produziert. Ein Kran setzt die containergroßen Einheiten anschließend wie Legosteine aufeinander.

Wie viel eine Wohnung auf der schwimmenden Stadt in Südkorea kostet, können die Entwickler noch nicht abschätzen. Aber: „Schwimmende Städte dürfen kein Privileg der Reichen sein“, stellt Marc Collins Chen, Mitgründer von Oceanix, klar. Maimunah Mohd Sharif, Stadtplanerin und Exekutivdirektorin von UN-Habitat, betont zudem, wie wichtig es ist, dass möglichst viele Menschen von der Einrichtung profitieren: „Wir unterstützen die Idee einer nachhaltigen schwimmenden Stadt, um zu gewährleisten, dass die Entwicklungen in diesem neuen Bereich allen Menschen zugutekommt“, sagt sie.

Selbst wenn am Ende nur ein paar Tausende Menschen auf der Insel wohnen – der Bau von Oceanix dürfte weitreichendere Auswirkungen haben. Denn die nachhaltigen Kreislaufsysteme können auch für andere Städte als Vorbildfunktion dienen. Wenn die umweltfreundlichen Systeme großflächig angewandt werden, sorgen sie am Ende vielleicht mit dafür, dass wir gar keine schwimmenden Städte mehr brauchen. Und dass besonders bedrohte Städte wie Venedig doch noch eine Zukunft haben und nicht irgendwann im Meer versinken.

 

15 Zentimeter
stieg der Meeresspiegel im 20. Jahrhundert an. 
Quelle: Deutsches Klima Konsortium

3,2 Millionen
Deutsche leben in hochwassergefährdeten Küstengebieten. 
Quelle: Zeit online

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