Biomimikry: Alles schon mal da gewesen
Das Innovationspotenzial von Tieren und Pflanzen scheint schier unerschöpflich. Davon können auch die Menschen profitieren: Manchmal fliegt die Lösung für technische Probleme buchstäblich am Fenster vorbei – auf einem Schmetterlingsflügel oder im Magen einer Biene.
Fallschirm, Stacheldraht und Klettverschluss haben eine Gemeinsamkeit: Der Mensch hat sie mehr oder weniger vollständig von der Natur abgekupfert. Wenn es darum geht, möglichst ressourcenschonende Technik zu entwickeln, machen sich weltweit Forschende das Prinzip auch heute noch zu Nutze. Die Natur, sagen sie, habe die fortschrittlichsten Lösungsansätze. Dies zeigen auch die folgenden Beispiele.
Baumeister Natur
In neun von zwölf Monaten liegt die Tageshöchsttemperatur in Harare über 30 Grad. Ohne Klimaanlagen geht in Simbabwes Hauptstadt gar nichts, aber die sind teuer. Für das 1996 eröffnete Einkaufs- und Bürozentrum Eastgate musste sich der Architekt Mick Pearce daher etwas Besonderes einfallen lassen. Dank der in die Gebäudestruktur integrierten Belüftungskamine und Öffnungen an der begrünten Fassade zirkuliert die Luft im Gebäude, sodass so gut wie keine weitere Klimatisierung notwendig ist. Und das in einer Immobilie mit mehr als 30.000 Quadratmetern Nutzfläche.
Das Belüftungsprinzip erinnert an Termitenhügel, die zahlreiche, nach oben offene Kamine aufweisen. Sie haben dem simbabwischen Architekten die entscheidende Idee geliefert. „Man nimmt, was man vom Klima bekommt, und orientiert sich daran bei seinem Entwurf. Das ist genau das, was die Termiten optimiert haben,“ erklärt der Architekt in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Im Falle des Einkaufszentrums heißt dies: Die kalte Nachtluft kühlt das Gebäude, Ventilatoren sorgen dafür, dass sie in jeden Winkel gelangt.
Biomimikry nennt man dieses in der Architektur längst etablierte Prinzip, sich solche entscheidenden Kniffe von der Natur abzugucken. So ist etwa der von Sir Norman Foster entworfene Londoner Wolkenkratzer „The Gherkin“ inspiriert vom Gießkannenschwamm. Sowohl die an eine Gurke erinnernde Form, seine Stahlgitterstruktur als auch das Belüftungssystem sind dem Meerestier nachempfunden. Sie sorgen für Stabilität, Flexibilität, Energieeffizienz – und für eine ganz besondere Ästhetik.
Schmetterlingsflügel als Inspiration
Was bei Immobilien funktioniert, geht auch in anderen Bereichen, wie der Physiker Debashis Chanda von der University of Central Florida zeigt. Ihn bringt in erster Linie die Ästhetik der Natur auf Lösungsideen. Vom besonderen Blau des Morphofalters inspiriert, hat Chanda einen Lack entwickelt, der deutlich leichter als bisherige Farben ist und handfeste ökologische, aber auch ökonomische Vorteile mitbringt: Je leichter die Lackierung zum Beispiel eines Flugzeugs ausfällt, desto leichter ist die ganze Maschine. Das senkt den Treibstoffverbrauch, die Kosten und nicht zuletzt die Emissionen. Gerade einmal 1,4 Kilogramm der sogenannten plasmonischen Strukturfarbe sollen ausreichen, um eine Boeing 747 zu lackieren – rund 450 Kilogramm weniger als mit herkömmlichen, pigmentbasierten Beschichtungen, wenn sie direkt auf der Oberfläche aufgebracht werden. Da plasmonische Farbe auch Infrarotstrahlung reflektiert, hat die Lackierung sogar einen kühlenden Effekt.
Der Schlüssel zur Leichtigkeit liegt buchstäblich auf den Flügeln des Morphofalters. Dort sorgen nicht Pigmente, sondern Lichtreflexionen bestimmter Nanostrukturen für das Himmelsblau. Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert der plasmonische Lack der Forscher aus Florida: Einfallendes Licht trifft auf Aluminium-Nanostrukturen und interagiert mit den Elektronen des Metalls. Ein Wechselspiel aus Absorption und Reflektion sorgt für den Farbeindruck. Ändert man die strukturellen Dimensionen, erhält man andere Farben. Die Materialien selbst, aus denen die plasmonische Strukturfarbe besteht, sind farblos.
Chanda und sein Team stellen auf Grundlage dieses Prinzips Farbflocken her, die, mit Bindemittel gemischt, die ultraleichte Farbe mit Kühleffekt ergeben. Die Herstellungskosten liegen aktuell laut Chanda bei rund acht US-Dollar pro Gramm Farbflocken. Wegen der Entsorgung brauche man sich übrigens keine Sorgen zu machen, sagt der Wissenschaftler: „Die Farbflocken bestehen aus Aluminium und Siliziumoxid. Beide Materialien kommen in der Umwelt sehr häufig vor und stellen keine Gefahr dar.“
Künstliche trifft kollektive Intelligenz
Dass Architekten und Physiker sich von der Natur inspirieren lassen, ist schnell nachvollziehbar. Aber selbst KI-Forscher wie Tim Landgraf setzen in ihrer Arbeit auf Biomimikry. Für den Professor für Künstliche und Kollektive Intelligenz am Dahlem Center for Machine Learning and Robotics der Freien Universität Berlin ist das nur folgerichtig: „Die Natur entwickelt die fortschrittlichste Technik und die fortschrittlichsten Prozesse“, sagt der Informatiker. Sein Forschungsbereich liegt an der Schnittstelle zwischen Robotik und kollektiver Intelligenz. Mal beobachtet sein Team das Verhalten von Fischschwärmen, die von Roboterfischen zu einer neuen Nahrungsquelle geführt werden. Mal versieht es mehrere tausend Bienen eines Schwarms mit QR-Codes, um das individuelle Verhalten jeder einzelnen Biene im Schwarm zu verfolgen.
Es waren die Bienen, die Landgraf auf die Idee brachten, autonom fahrende Elektrofahrzeuge als Energiequelle für andere E-Fahrzeuge zu nutzen. Die Autos könnten einander während der Fahrt Strom abgeben, um so die beiden Ressourcen Zeit und Energie möglichst effizient miteinander zu kombinieren. Wie bei den Bienen eben: Geht einem einzelnen Insekt die Energie aus, kann es anderen signalisieren, dass es Nahrung benötigt. Ein zweites Tier gibt dann ein wenig Nährflüssigkeit ab, sodass die hungrige Biene weiterfliegen kann. „Passiert das einmal, ergibt das keinen großen kollektiven Gewinn. Aber insgesamt sorgt dieses Verhalten dafür, dass der Schwarm effizienter arbeitet“, erklärt Landgraf.
Dieses Prinzip wollen die Forscher nun auf Elektroautos übertragen, ohne die weniger kollektive menschliche Natur aus dem Blick zu verlieren: „Wer mit seinem Auto beim Fahren Strom an andere abgibt, könnte zum Beispiel über Bonuspunkte eine finanzielle Kompensation erhalten.“ Gedacht ist das System nicht für den Fernverkehr, sondern für den urbanen Raum. Auf weiten Strecken benötigen die Fahrzeuge den Strom in der Regel komplett selbst.
Auch wenn die Idee noch nicht marktreif ist: „Wir haben bereits einen Algorithmus patentieren lassen, der die Steuerung des Systems übernehmen könnte“, sagt Landgraf.
50 Prozent
ca. beträgt die gesamte Energieeinsparung im Eastgate Center in Harare im Vergleich zu konventionell klimatisierten Gebäuden.
Quelle: Mick Pearce
25 Meter
weit (bis zu) flog Otto Lilienthal beim ersten Versuch mit einem vom Vogelflug inspirierten Fluggerät im Jahr 1891.Quelle: Otto-Lilienthal-Museum
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