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„Wir müssen lernen, mit dem Wasser zu leben“

Text von Mia Pankoke
01.07.2025
Gesellschaft

Wie könnte das Leben in den Niederlanden im Jahr 2100 aussehen, wenn große Teile buchstäblich Land unter stehen? Te:nor hat mit zwei Autoren vom Rotterdamer Planungsbüro MVRDV gesprochen – über Maßnahmen, Investitionen und darüber, ob die Konzepte international taugen.

In Ihrer Studie “What-if: Nederland 2100” haben Sie diverse, aus heutiger Sicht radikale Szenarien für das Jahr 2100 entwickelt: schwimmende, geflutete Städte, nutzbare Grünflächen auf jedem Dach, selbstverständliche Fortbewegung per Boot. Werden sich die Niederlande wirklich so drastisch verändern? 

Stijn Lanters: Das kann ich nicht beurteilen, wir entwerfen nur eine mögliche Zukunft. Klar ist aber: Auf ein Land, das zu weiten Teilen unterhalb des Meeresspiegels liegt und dessen größte Städte an der Küste liegen, kommen im nächsten Jahrhundert große Aufgaben zu. Deshalb wurden wir vom niederländischen Innenministerium beauftragt, eine Methodik zu entwickeln, die Zukunftsszenarien entwirft. Dies zeigt nun mögliche künftige Realitäten und in einer davon ist eine Welt, in der der Meeresspiegel aufgrund der Erwärmung stark steigt. Je konkreter wir dabei vorgehen, desto besser können wir uns darauf vorbereiten, was kommt. 

Und wie gelingt ein solcher Blick in die Glaskugel auf wissenschaftliche Weise? 

Lanters: Wir nutzen eine Matrix – eine Art Tabelle, oder wie wir sagen ein Mischpult, in das wir zentrale Einflussfaktoren wie Klimawandel, Bevölkerungswachstum, Bodenverhältnisse, die Verteilung von Wohnraum oder Energienutzung einpflegen und kombinieren. Die Matrix ist ein wenig wie ein Zukunftsbaukasten: Je nachdem, welche Szenarien wir vorgeben, sehen wir, wie die Zukunft der Niederlande aussehen könnte.

Wir stellen konkrete Ideen vor, etwa kontrollierte Flutungen gewisser Regionen, geschützte historische Zentren, den Umbau der Landwirtschaft und verdichtete, also vertikale Städte.
Stijn Lanters, MVRDV

Da ergeben sich doch unendlich viele Möglichkeiten ...

Stephan Boon: Ja, und deshalb haben die mitwirkenden drei Planungsbüros sich auf einen gemeinsamen Weg geeinigt, mit den Extremszenarien als Ausgangspunkt: die maximal vorhergesagte globale Erwärmung von fünf Grad und das für die Niederlande maximal prognostizierte Bevölkerungswachstum auf bis zu 24 Millionen Menschen. Das bedeutet mehr Menschen und weniger bewohnbare Gebiete, weil der Meeresspiegel steigt – vor allem im Westen der Niederlande. Dort könnten bis zu 15 Prozent der Landesfläche überflutet werden. 

Klingt beängstigend.

Boon: Wir wollen keine Angst verbreiten, sondern zeigen, dass es eine lebenswerte Zukunft gibt – auch wenn das eintritt. Vorausgesetzt, wir denken unseren Umgang mit Wasser neu. Auf den ersten Blick ist das radikal – aber der Zeitraum unserer Simulationen beträgt hundert Jahre.

Lanters: Wir haben nicht nur Szenarien entworfen, sondern auch Lösungswege aufgezeigt. Wir stellen konkrete Ideen vor, etwa kontrollierte Flutungen gewisser Regionen, geschützte historische Zentren, den Umbau der Landwirtschaft und verdichtete, also vertikale Städte, in denen viele Menschen auf kleinerem Raum Platz finden könnten. Die Simulation zeigt: Wenn wir heute beginnen, sind viele Lösungen realistisch. Die Entwürfe sind daher keine Science-Fiction, sondern zeigen tatsächlich mögliche Zukunftsszenarien.

Einige Ideen dürften auf Widerstand in Bevölkerung und Politik treffen. Was ist aus Ihrer Sicht die größte Herausforderung?

Lanters: Ganz klar der kulturelle Wandel. Die Niederlande haben über Jahrhunderte gelernt, sich gegen das Wasser zu verteidigen. Jetzt müssen wir lernen, mit dem Wasser zu leben. Wir empfehlen beispielsweise, große Flächen des Polder- und Veenlandes umzuplanen, also des Moorbodens, der seit Jahrhunderten für Landwirtschaft genutzt wird. Hier könnten Süßwasserreservoirs entstehen oder wasserliebende Nutzpflanzen, etwa Reis, wachsen. Das bedeutet, umzudenken – in Politik, Verwaltung und Gesellschaft. Und ja, das ist unbequem. 
Beeinflussen die vorgestellten Szenarien bereits aktuelle politische Prozesse?

Boon: Zum Glück, ja. Da unsere Studie zum Programm Mooi Nederland – auf Deutsch schöne Niederlande – gehört, fließen die Erkenntnisse daraus in kommunale und nationale Planungsprozesse ein. Konkrete Maßnahmen wurden zwar noch nicht eingeleitet. Was uns aber zuversichtlich stimmt: Es gibt bereits konkrete politische Reaktionen auf ähnliche, frühere Studien. Das Bauen in Überflutungsgebieten zum Beispiel ist nur noch eingeschränkt möglich. Wir sind deshalb sicher: Auch aus unserer Studie wird sich etwa die Verdichtung von Städten durchsetzen. Und der Bau von schwimmenden oder erhöhten Gebäuden oder Flächen, sei es zum Wohnen, Arbeiten oder für die Landwirtschaft sind bereits Realität. 

Insgesamt ist Deutschland aus unserer Sicht, was diese Themen angeht, noch etwas schleppend unterwegs.
Stijn Lanters, MVRDV

Solche Maßnahmen umzusetzen, kostet viel Geld.

Lanters: Konkrete Kostenmodelle haben wir in dieser Studie nicht aufgestellt – dafür war sie auch nicht ausgelegt. Aber mehrere wirtschaftliche Überlegungen sind in die Szenarien eingeflossen. Beispielsweise wird es ab einem bestimmten Punkt für Versicherungen unrentabel, von Überschwemmung besonders gefährdete Gebiete zu versichern. Das könnte dazu führen, dass sich urbane Zentren vom gefährdeten Westen in den höhergelegenen Osten verlagern. 

Boon: Wenn wir frühzeitig mit der Umsetzung notwendiger Maßnahmen beginnen, können wir die Investitionen über Jahrzehnte hinweg verteilen. Infrastrukturprojekte wie Deichbau, Stadtverlagerung oder regionale Energieversorgung werden dann gestaffelt realisiert. Die Studie verweist explizit auf bestehende staatliche Investitionsprogramme hin, zum Beispiel Mooi Nederland, das sich mit den langfristigen räumlichen Herausforderungen des Landes beschäftigt. Wir zeigen langfristige Prozesse, die über Zeiträume von 30 bis 100 Jahren finanziell tragfähig sind.

Deutschland steht vor ähnlichen Herausforderungen. Gibt es einen Austausch mit deutschen Planern oder Kommunen?

Lanters: Konkrete Projektkooperationen gibt es derzeit nicht – aber das Thema ist auch für Deutschland hochrelevant. Gerade für das norddeutsche Tiefland sind viele Fragen vergleichbar. Da hätte ein enger Austausch großes Potenzial. Insgesamt ist Deutschland aus unserer Sicht, was diese Themen angeht, noch etwas schleppend unterwegs. Doch vor allem die Überschwemmungen im Ahrtal haben für Umdenken gesorgt. Seitdem wächst das Interesse an unseren Erkenntnissen.
Sind Ihre Konzepte auch auf andere Weltregionen übertragbar?

Lanters: Viele der städteplanerischen Ideen sind universell einsetzbar. Wir haben ähnliche Konzepte etwa für Vancouver entworfen oder auch für die San-Francisco-Bay-Area. Theoretisch lassen sich die grundlegenden Prinzipien wie schwimmende Strukturen oder alternative Landwirtschaft auch auf Regionen in Bangladesch, Indonesien oder Westafrika anwenden – selbstverständlich immer angepasst an lokale Gegebenheiten. 

Die Niederlande im Klimawandel

„What if: Nederlands 2100“  – unter diesem Titel haben drei niederländische Planungsbüros – MVRDV, IMOSS und Feddes/Olthof – eine Zukunftsstudie entwickelt, die zeigt, wie ein lebenswertes und widerstandsfähigeres Land im Jahr 2100 aussehen könnte. Im Zentrum der Studie steht eine Matrix – ein Planungsinstrument, das wissenschaftliche Rahmenbedingungen (etwa Klima, Bevölkerungsdichte oder landwirtschaftliche Bodennutzung) mit politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen kombiniert. 

26 Prozent 
der Fläche der Niederlande liegen unter dem Meeresspiegel.
Quelle: What-if: Nederland 2100

240.000 Wohnungen 
könnten zusätzlich durch Umnutzung und Verdichtung in gefährdeten Flussgebieten entstehen – trotz gleichzeitiger Aufgabe bestehender Bauten.
Quelle: What-if: Nederland 2100

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