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„Du kannst ein Kind aus dem Krieg holen. Aber wie holst du den Krieg aus dem Kind?“
Ein Dach über dem Kopf und ausreichend Essen – das allein genügt nicht, um Kinder aus Krisengebieten adäquat zu unterstützen. Vielmehr müssen die mentale Gesundheit der Kinder gestärkt und ihre Bildungschancen erhöht werden, damit sie das Erlebte verarbeiten und Vertrauen in eine bessere Zukunft gewinnen können. Wie das gelingt, erklären Nienke Teunissen und Till Schuster von War Child.
Die Organisation War Child unterstützt Kinder in und aus Krisengebieten. Warum wenden Sie sich ausgerechnet an die Kleinsten?
Nienke Teunissen: Kein Kind der Welt hat jemals einen Krieg begonnen – doch sie leiden am meisten darunter. Aktuell wachsen 473 Millionen Kinder in Konfliktgebieten auf, eine unvorstellbar große Anzahl also. Unsere Mission ist es, sie dort oder in den Flüchtlingsunterkünften zu unterstützen.
Wie funktioniert das?
Teunissen: Kein Unser Ansatz basiert auf drei Säulen: psychosoziale Unterstützung, Bildung und Schutz. Zehn Programme – von Spiel- und Bewegungsangeboten bis hin zu Tablet-Lernspielen – helfen Kindern, das Erlebte zu verarbeiten, emotionale Stabilität zu finden und ihre Widerstandskraft zu stärken. Unsere Programme sind wissenschaftlich fundiert, werden weltweit von Forschenden begleitet und evaluiert. Große Organisationen wie UNICEF und Save the Children nutzen ebenfalls unsere Ansätze. 2024 konnten wir mit War Child etwa eine Million Kinder erreichen – gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen sind es sogar noch mehr.
Was beobachten Sie bei Kindern, die Krieg und Konflikte erlebt haben?
Till Schuster: Die Kinder, die ich in Hamburger Geflüchteteneinrichtungen treffe, stehen oft unter großem Stress. Die Erlebnisse aus Krieg und Flucht haben sie noch nicht verarbeitet. Das zeigt sich vor allem in ihrem sozialen Verhalten: Einige ziehen sich komplett zurück, während andere durch unangepasste Reaktionen wie Beleidigungen oder Gewalt versuchen, Aufmerksamkeit zu bekommen.
Teunissen: Unser Leitspruch bringt es gut auf den Punkt: Du kannst ein Kind aus dem Krieg holen. Aber wie holst du den Krieg aus dem Kind? Die Kinder sehnen sich nach Normalität – und die geben wir ihnen mit unseren Programmen ein Stück weit zurück.
Können Sie ein Beispiel beschreiben?
Teunissen: Der Zugang zu Wissen und Lernmöglichkeiten ist für Kinder in Kriegsgebieten und Geflüchtetenunterkünften stark eingeschränkt. 78,2 Millionen Kinder können aufgrund humanitärer Krisen nicht regelmäßig zur Schule gehen. Deshalb haben wir das E-Learning-Programm Can’t Wait to Learn entwickelt. Die Lernspiele sind sowohl optisch als auch inhaltlich auf einzelne Länder und Kulturen zugeschnitten und haben bereits mehr als 205.000 Kinder in acht Ländern erreicht. Unsere Tablets lassen sich per Solarenergie aufladen, sind also auch vor Ort einsatzbereit.
Wie erfolgreich ist Can’t Wait to Learn?
Teunissen: Sehr erfolgreich, wie ein Beispiel zeigt: In Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Bildungsministerium und Partnern wie der Roger Federer Foundation nutzen wir die Lernplattform auch in der Ukraine. Dort benötigen mehr als drei Millionen Kinder, deren regulärer Schulunterricht massiv beeinträchtigt ist, Unterstützung – etwa, weil Schulen zerstört und Lehrer getötet wurden. Unsere Auswertungen zeigen, dass die Kinder mithilfe unseres Tools trotz der schwierigen Umstände in der Lage sind, das Leistungsniveau ihrer Klassenstufe zu halten. Das ist ein großer Erfolg, finde ich.
2024 hat War Child für sein Programm Teamup in Deutschland den Hanse-Merkur-Preis für Kinderschutz gewonnen. Was steckt hinter dem Programm?
Teunissen: Teamup steht für wöchentliche Spiel- und Bewegungsaktivitäten mit geschultem Personal. Die Übungen, die wir 2023 mit mehr als 155.000 Kindern in 23 Ländern durchgeführt haben, verfolgen klare Ziele: den Umgang mit Stress und Wut verbessern, Selbstvertrauen aufbauen und gegenseitigen Respekt fördern. Teilnehmen können Kinder zwischen vier und zwölf Jahren.
Schuster: In Deutschland setzen wir Teamup in sechs Geflüchtetenunterkünften und in je einer Schule in Hamburg und Berlin um. Bislang haben wir fast 3.000 Kinder mit dem Programm erreicht. Ein klar strukturierter Ablauf und feste Routinen sorgen für Verlässlichkeit. Die mehr als 120 Spiele sind überwiegend non-verbal, sodass auch Kinder, die kaum Deutsch sprechen, teilnehmen können.
Wie läuft eine Teamup-Einheit ab?
Schuster: Jede Einheit folgt einem festen Ablauf: Wir starten mit einem Begrüßungskreis und einer kurzen Routine – zum Beispiel reiben wir unsere Hände aneinander, zählen bis drei, und klatschen laut. Danach spielen wir zwei bis drei Spiele, gefolgt von einer Entspannungsübung und der Verabschiedung. Die Spiele bauen wir stufenweise von einfach bis komplex auf. Beim Seilspringen etwa beginnen wir damit, das Seil auf den Boden zu legen, und animieren die Kinder, darüber zu springen. Schritt für Schritt steigern wir die Schwierigkeit, bis das Seil geschwungen wird. So gewinnen auch schüchterne Kinder nach und nach Vertrauen in ihre Fähigkeiten und werden selbstbewusster. Jeden kleinen Erfolg feiern wir gemeinsam.
Wie profitieren Kinder von Teamup?
Schuster: Kinder mit Fluchterfahrung und Migrationshintergrund haben oft einen schwierigen Start ins Leben. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, ist es wichtig, dass sie mental stark sind. Durch die regelmäßige Teilnahme an Teamup lernen sie, Regeln einzuhalten, ihre Emotionen zu regulieren und Vertrauen in sich selbst sowie in die Gruppe aufzubauen. Die positiven Erfahrungen, die sie bei den Sessions machen, wirken im Idealfall über Teamup hinaus. Wenn ein Kind sich hier traut, mit fremden Kindern zu spielen, kann es dieses Selbstvertrauen auch in anderen Lebensbereichen zeigen.
Das Projekt Teamup von War Child wurde 2024 mit dem HanseMerkur Preis für Kinderschutz ausgezeichnet.
Video: True Story
Wie finanziert sich War Child?
Teunissen: Um so vielen Kindern wie möglich helfen zu können, sind wir auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Wir freuen uns über kleine und große Spenden von Privatpersonen und Unternehmen sowie über die Förderung durch staatliche Institutionen in den Niederlanden und Großbritannien. Doch der Blick auf die vielen Kriegs- und Konfliktgebiete weltweit zeigt leider sehr deutlich, dass wir dringend noch weitere Unterstützung benötigen. Schon mit zehn Euro im Monat lässt sich viel bewegen. Mit diesem Betrag kann ein von Krieg betroffenes Kind einen Monat lang von unseren Programmen profitieren. Darüber hinaus gibt es viele Möglichkeiten, sich ehrenamtlich zu engagieren, zum Beispiel bei Teamup, das wir bald in weiteren deutschen Städten etablieren möchten.
Haben Sie Erwartungen an die Politik?
Schuster: Die Politik muss mehr für die mentale Gesundheit geflüchteter Kinder tun. Mehr als 90 Prozent der geflüchteten Kinder, die nach Deutschland kommen, haben keinen Zugang zu psychologischen Angeboten. Sie tragen ihre Traumata, Ängste und Wut oft jahrelang mit sich, ohne die Möglichkeit zu haben, das Erlebte zu verarbeiten. Damit schaffen wir eine große Zahl von Menschen, die ihr Potenzial aufgrund unzureichender Unterstützung nicht entfalten können.
Und was würden die Kinder von der Politik fordern?
Schuster: Definitiv mehr Teamup!
Über War Child:
War Child wurde in den 1990er-Jahren in Amsterdam und London gegründet. Heute ist die gemeinnützige Organisation in 19 Ländern aktiv, seit 2019 auch in Deutschland. War Child arbeitet in Konfliktregionen sowie Flüchtlingsunterkünften und bietet Kindern Zugang zu Bildungsangeboten und psychosozialer Unterstützung.
Nienke Teunissen ist seit elf Jahren als Fundraising-Managerin für die Initiative tätig, zunächst in den Niederlanden und seit 2023 auch in Deutschland. Till Schuster arbeitet seit Anfang 2022 bei War Child und ist als Koordinator mitverantwortlich für das Programm Teamup in Deutschland.
56 Kriege
oder kriegsähnliche Konfliktsituationen gibt es derzeit weltweit – so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
Quelle: Global Peace Index 2024
43,3 Millionen Kinder
waren Ende 2022 Schätzungen zufolge weltweit auf der Flucht.
Quelle: UNICEF
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