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„Demokratie ist Arbeit“

Text von Paula Gent
03.04.2024
Gesellschaft

Am 9. Juni 2024 ist Europawahl. In Deutschland dürfen erstmals auch 16- und 17-Jährige abstimmen. Poetry-Slammer Tobias Beitzel appelliert in seinen Texten und Auftritten an die Jüngeren: Geht wählen!

Herr Beitzel, seit Jahren geht es bei Ihren Auftritten auch um das Thema Europa. Sie appellieren an die jungen Leute, zur Europawahl zu gehen. Warum ist das für Sie wichtig?

Ich bin als 26-Jähriger mit den Vorzügen der EU aufgewachsen. Und ich war schon immer ein sehr politischer Mensch, der überzeugt von der europäischen Idee ist. Das spiegelt sich auch in meinen Texten wider. Ich verstehe, dass Europa manchen weit weg erscheint – wenn man es runterrechnet, vertritt ein EU-Abgeordneter knapp 900.000 Deutsche. Aber es ist auch nicht Sinn der Sache, dass jeder Europaabgeordnete jedem Bundesbürger einmal im Jahr die Hand schüttelt. Wenn man sich damit beschäftigt, ist Europa in unserem Alltag ziemlich nah: Selbst in meiner kleinen Heimatstadt Bad Berleburg sind viele Projekte durch EU-Förderung zustande gekommen. Wir können ohne Grenzkontrollen in unsere Nachbarländer reisen und Geld umtauschen müssen wir auch nicht mehr. Das ist doch toll! 

Sie gehen in Ihren Texten immer wieder auf die Vergangenheit Europas ein. Was hat diese mit der Gegenwart zu tun? 

Die Vergangenheit kann ein Beispiel für uns sein: in manchen Fällen positiv, in anderen negativ. Wir leben in einem Europa, in dem sich Menschen vor 80 Jahren noch gegenseitig erschossen haben. Allein das Bild, dass Vertreter dieser Staaten nun abgeben, wenn sie gemeinsam in einem Parlament sitzen, sollte jeden zu einem überzeugten Europäer machen. Aber es gibt auch Menschen, die nicht genug aus der Vergangenheit gelernt haben. Um ihnen etwas entgegenzusetzen, ist es umso wichtiger, weiterhin an Europa zu glauben und sich für Europa einzusetzen. Das gilt auch für meine Generation und für die Jüngeren.

 

"Die Jungen sind so politisch wie lange nicht mehr. Als ich acht oder neun Jahre alt war, war mein größtes Anliegen das Sommermärchen 2006. Wenn ich heute in Schulen unterwegs bin und Poetry-Slam-Workshops gebe, haben die Kinder ganz andere Dinge im Kopf: Sie haben Familien in Israel oder Palästina, in Russland oder der Ukraine. Sie gucken in eine Zukunft, in der die Ökosysteme vielleicht zusammenbrechen und schließen sich deshalb Fridays for Future an."

Tobias Beitzel, Poetry-Slammer

 

Warum ist Wählen gerade für die jungen Generationen so wichtig?

Beim Brexit-Referendum 2016 in Großbritannien haben wir gesehen, was passiert, wenn junge Menschen nicht zur Wahl gehen oder, in diesem Fall, nicht gehen dürfen. Hätten 16- und 17-Jährige in Großbritannien mitwählen dürfen, wäre der Vorsprung des Brexit-Lagers geringer ausgefallen. Vielleicht wäre er auch abgelehnt worden. Heute getroffene Entscheidungen gestalten die Zukunft langfristig – und zwar weit über die nächste Legislaturperiode heraus. 

Deshalb hat der Bundestag das Wahlalter bei der Europawahl auch abgesenkt. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hat vorgeschlagen, dass schon 16-Jährige bei jeder Wahl stimmberechtigt sein sollten. 

Wenn junge Menschen nicht wählen gehen, besteht das Risiko, dass Zukunftsthemen verschlafen werden. Für mich ist Wählen eine Bürgerpflicht. Es ist der einfachste Weg, sich demokratisch zu beteiligen. Wer nicht wählen geht, verliert meiner Meinung nach auch das Recht, die nächsten fünf Jahre zu meckern. Gerade junge Menschen müssen daran interessiert sein, ihre Zukunft mitzugestalten und sie nicht den Menschen zu überlassen, die in den letzten Jahrzehnten schon vieles falsch gemacht haben. 

Wollen die jüngeren Generationen überhaupt Politik machen? 

Aber ja, die Jungen sind so politisch wie lange nicht mehr. Als ich acht oder neun Jahre alt war, war mein größtes Anliegen das Sommermärchen 2006. Wenn ich heute in Schulen unterwegs bin und Poetry-Slam-Workshops gebe, haben die Kinder ganz andere Dinge im Kopf: Sie haben Familien in Israel oder Palästina, in Russland oder der Ukraine. Sie gucken in eine Zukunft, in der die Ökosysteme vielleicht zusammenbrechen und schließen sich deshalb Fridays for Future an. 

Ich habe eher das Gefühl, dass sich in älteren Generationen eine Veränderungsverdrossenheit eingestellt hat. Manche wünschen sich, es würde ewig 1995 bleiben. Das geht aber nicht. Dinge müssen sich verändern. Es liegen so viele Aufgaben vor uns, dass wir Tempo machen müssen. Der Job der Politik kann es nicht sein, langsamer zu machen, damit jeder hinterherkommt. Auch, weil in den letzten 20, 30 Jahren vieles verschlafen wurde. 

Für manche ändern sich die Rahmenbedingungen aber zu schnell …

Das stimmt. Und es besteht natürlich die Gefahr, dass Menschen, die sich abgehängt fühlen, für rechtspopulistische Inhalte empfänglich werden. Aber die Frage ist: Wollen wir uns von Rechtspopulisten diktieren lassen, wie schnell wir handeln wollen? Ich glaube es gab schon immer einige Menschen in der Gesellschaft, die so gedacht haben. Sie haben jetzt mit der AfD ein Sammelbecken bekommen. Wer diese Partei wählt, sagt damit: Ich möchte an den demokratischen Diskursen dieser Gesellschaft und an der Lösung von Problemen nicht mehr teilnehmen. Das ist kein Hilferuf, sondern ein Aufgeben. Ich finde nicht, dass wir uns davon beeinflussen lassen sollten.


So funktioniert Europa:

Die Serie „How it works“ erklärt mit kurzen Videos, wie politische Entscheidungen in der EU getroffen werden und welche Befugnisse das EU-Parlament hat.

Andere wiederum haben das Gefühl, dass die eigene Stimme keine große Bedeutung hat, ein Engagement sich also nicht lohnt. Was sagen Sie denen? 

Ich kann verstehen, dass es sich für manche Menschen so anfühlt. Ihnen kann ich versichern, dass man meistens mit seiner Meinung nicht allein ist. Man kann sich zusammentun, um eine Stimme lauter werden zu lassen. Demokratie besteht aus konkreten Institutionen – und die bestehen aus uns allen. Demokratie ist auch Arbeit. Wir können nicht erwarten, dass sie uns auf dem Silbertablett serviert wird. 

Was muss sich ändern, damit sich noch mehr junge Menschen für Politik interessieren und engagieren? 

Es braucht erstens mehr Identifikationsfiguren. Im Europaparlament liegt das Durchschnittsalter bei knapp 50 Jahren, im deutschen Bundestag sind es 47 Jahre, in den Landtagen sieht es ähnlich aus. Es tut sich aber was: Emily Vontz ist mit 22 Jahren jüngste Abgeordnete des deutschen Bundestages und die Dänin Kira Marie Peter-Hansen zog 2019 mit 21 Jahren als jüngste Abgeordnete ins Europaparlament ein. Zweitens wird in Politik und Gesellschaft häufig „die Jugend von heute“ oder „der Zustand der Bildung in deutschen Schulen“ bemängelt. Meiner Erfahrung nach ist das realitätsfern. Wenn ich in Schulen bin, erlebe ich interessierte, gebildete Schüler. Wir sollten mehr mit jungen Menschen reden statt über sie.


Zur Person: 
Tobias Beitzel ist Comedian und Poetry-Slammer. Vor kurzem gründete er die Firma Wortwechsel, mit der er Schreib- und Poetry-Slam-Workshops an Schulen anbietet und Veranstaltungen organisiert. Im November 2023 trug er bei einem Vernetzungstreffen zur Europawahl seinen Text „Ein Koffer voller Briefe“ vor.

1,5 Millionen
16- und 17-jährige Deutsche dürfen 2024 erstmals an der Europawahl teilnehmen.
Quelle: Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland 

80 Prozent
der Deutschen sagen, dass sich das Handeln der EU auf ihr tägliches Leben auswirkt.  
Quelle: Europäische Union 

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