Keine Inklusion ohne Barrierefreiheit
Selbstständig, jung, weiblich, im Rollstuhl: Laura Gehlhaar bricht mit Erwartungen, was auch immer sie tut. Die Wahlberlinerin berät Unternehmen zu den Themen Inklusion, Diversität und Gleichberechtigung. Damit hat sie gut zu tun, denn Deutschland ist wahrhaftig kein Inklusionsvorreiter.
Ein klassischer Berliner Hinterhof: Mitten in der Stadt und doch ruhig. Kopfsteinpflaster, Altbauten, ein paar Nachbarn im Hintergrund. Laura Gehlhaar kann hier ungestört in der Sonne sitzen und telefonieren. Wir haben uns verabredet, um über Inklusion zu sprechen, denn für dieses Thema ist Gehlhaar Spezialistin: Sie berät Organisationen zur Frage, wie Menschen mit und ohne Behinderung besser zusammen leben und arbeiten können. „Inklusion ist eine Frage der Barrierefreiheit“, sagt Gehlhaar.
Die 39-Jährige ist selbst Rollstuhlfahrerin, hat zwei Universitätsabschlüsse, lebt mitten in Berlin und ist verheiratet. Dass sie all das erreicht hat, ist ungewöhnlich, denn: „Als Unternehmerin und behinderte Frau bin ich die absolute Ausnahme“, betont Gehlhaar und fügt hinzu: „In Deutschland denken wir Menschen mit Behinderung schlicht nicht mit“, sagt sie und meint das Fehlen barrierefreier Städte genauso wie die Tatsache, dass Behindertenwerkstätten und -wohnheime meist isoliert am Stadtrand liegen: „Behinderte Menschen sehen wir höchstens mal beim Gruppenausflug zur Eisdiele.“
Gehlhaar hat am eigenen Leib erfahren, dass Barrierefreiheit der entscheidende Faktor auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben ist: Während die Lehrer in der Schule ihr regelmäßig klarmachten, dass sie als Mädchen und dann auch noch im Rollstuhl nichts erreichen werde, sei sie im Studium „das erste Mal so richtig aufgeblüht“. Gehlhaar studierte in den Niederlanden Sozialpädagogik und Psychologie. Ihre Universität war neu und barrierefrei gebaut. So waren beispielweise alle Gebäude rollstuhlgerecht. Es gab Leitsysteme für Sehbehinderte sowie Mentoren und flexiblere Vorgaben für Studierende mit Behinderung. Ein weiteres Aha-Erlebnis: „Ich habe vorher noch nie so viele Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen in meinem Alltag gesehen. Das war dort schlicht die Norm“, sagt sie.
Gehlhaar begann, sich mit der Frage zu beschäftigen, warum das, was an ihrer Hochschule so gut funktionierte, im Alltag in Deutschland unmöglich erschien – und wie es sich ändern ließe. Eigentlich hat sich die deutsche Politik schon im Jahr 2009 mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung verpflichtet. Das bedeutet: Inklusion ist Menschenrecht. Den Rechtsanspruch regelt hierzulande das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), das im Jahr 2016 im Hinblick auf die UN-BRK überarbeitet wurde. Allerdings: „Das BGG formuliert den Rechtsanspruch auf Barrierefreiheit nur gegenüber öffentlichen Institutionen”, kritisiert Gehlhaar. Deshalb können Menschen mit Behinderung sich nicht vor Gericht dagegen wehren, wenn etwa ein Restaurant nur über eine Treppe zugänglich ist oder keine Behindertentoilette hat.
Für Gehlhaar ist diese Form der Diskriminierung alltäglich: Sie kann nicht, wie andere Selbstständige, einfach einen Schreibtisch im nächstgelegenen Co-Working-Space anmieten oder spontan zum Arbeiten in ein Café ausweichen. Anders als ihre Wohnung oder der Hinterhof sind die nämlich in der Regel nicht barrierefrei. Mit diesem Problem steht sie in Deutschland nicht allein da: Als schwerbehindert gilt, wer einen Grad der Behinderung von mindestens 50 Prozent hat. Das sind laut Statistischem Bundesamt zum Jahresende 2021 rund 7,8 Millionen Menschen – und damit 9,4 Prozent der deutschen Bevölkerung, die nur eingeschränkt ihr Restaurant, ihre Läden und auch ihren Arzt wählen können. „Wir sind nicht handlungsfähig, wenn es darum geht, unser Menschenrecht auf Inklusion durchzusetzen“, sagt Gehlhaar.
Das macht sich auch bei einem Blick auf den Arbeitsmarkt bemerkbar. Im Jahr 2020 war die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen in Deutschland mit 11,8 Prozent doppelt so hoch wie in der gesamten Bevölkerung. Gehlhaar ist überzeugt: Das liegt an einer fehlenden behindertengerechten Infrastruktur, am fehlenden Rechtsanspruch und an der berechtigten Furcht vor Diskriminierung. Hier setzt die Berlinerin an: Sie berät Unternehmen zum Thema Inklusion – und zu mehr Diversität: „Es reicht nicht, dass ein Unternehmen eine Rollstuhlfahrerin einstellt – die ist dann nämlich immer die Einzige, die anders ist.“ Wichtig sei, dass sich unsere „Sehgewohnheiten“ dauerhaft ändern. Es sollte normal werden, dass sich Menschen mit und ohne Behinderungen in ihrem Alltag überall begegnen – „wie damals an meiner niederländischen Uni“, so Gehlhaar.
Wer echte Inklusion will, muss sich von alten Denkmustern verabschieden. Gehlhaar berichtet von einem Auftrag, bei dem sie per Videokonferenz in einem Unternehmen einen Vortrag hielt: „Nachdem ich dort eine Stunde detailliert von Konzepten und Maßnahmen der Inklusion gesprochen habe, war den Teilnehmern aufgefallen, dass die Büroräume nur über Treppen zugänglich waren – es gab keinen Aufzug.“ Die Zuhörer waren unschlüssig, ob das Unternehmen zugunsten von Chancengleichheit denn nun wirklich gleich umziehen müsse. Inklusion wird so zu einer Angelegenheit des guten Willens – und das ist weit entfernt von einem allgemeingültigen Rechtsanspruch auf Gleichstellung. „Manchmal muss ich meinen Kundinnen und Kunden erst einmal klar machen, dass Menschen mit Behinderung qualifizierte Fachkräfte sind, auf die sie – gerade auch in Zeiten des Fachkräftemangels – nicht verzichten können“, so Gehlhaar. Zudem seien solche Reaktionen schmerzlich, denn es halte auch ihr selbst immer wieder vor Augen, dass sie nicht als normal wahrgenommen werde.
Dabei machen nicht nur schwerbehinderte Menschen Diskriminierungserfahrungen, sondern alle, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen, also in irgendeiner Form körperlich behindert oder mental weniger leistungsstark sind. „Inklusion ist kein Akt der Nächstenliebe“, betont Gehlhaar. Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass der Anteil der schwerbehinderten Menschen mit zunehmendem Alter stark ansteigt. Krankheiten, Unfälle, ein chronisch krankes Kind oder ein Pflegefall in der Familie – jeder kann betroffen sein und am Ende profitieren alle von einer inklusiven Gesellschaft. Gehlhaars Forderung ist so einfach wie radikal: „Barrierefreiheit fängt an der Türschwelle zum Restaurant und zum Büro an – zu wirklich jedem Restaurant und jedem Büro.“
7,8 Millionen
Anzahl der schwerbehinderten Menschen, die zum Jahresende 2021 in Deutschland leben.
Quelle: Statistisches Bundesamt
57 Prozent
der Menschen mit Behinderung zwischen 15 und 64 Jahren, die im Jahr 2019 in den Arbeitsmarkt integriert waren.
Quelle: Statistisches Bundesamt
Kleine Flugzeuge sind um ein Vielfaches klimaschädlicher als andere Verkehrsmittel. Während Umweltorganisationen daher ein Verbot fordern, setzen Politik und Luftfahrtverbände auf nachhaltige Technologien. Te:nor fasst den aktuellen Stand der Debatte zusammen.
Klimafreundlich, lebenswert, bezahlbar – im Südosten Hamburgs entsteht auf mehr als 100 Hektar ein neues Stadtviertel. Es ist das zweitgrößte Neubauprojekt der Hansestadt.
Das waren Zeiten: Schnell mal übers Wochenende für 9 Euro nach London oder Ibiza fliegen. Heute fragt jeder nach der CO2-Bilanz, Flugtickets sind fast unbezahlbar geworden. Und wir besinnen uns auf eine alte Tugend: Romantisches Reisen mit dem Nachtzug.
Was junge Menschen politisch bewegt, wird zu wenig gehört, meint Claudia Langer von der Generationen Stiftung. Im Interview berichtet sie von der Lobbyarbeit für die Interessen der jungen und kommenden Generationen.