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„Die Abhängigkeit vom Auto ist fatal“

Text von Maria Kessen
13.10.2022
Gesellschaft

Wenn wir Städte weitreichend vom Auto befreien, ist das gut für Menschen, glaubt Jana Kühl, Professorin an der Ostfalia-Hochschule für angewandte Wissenschaft in Salzgitter. Im Interview erklärt die Radverkehrs-Forscherin, was wir dabei von den Niederländern lernen können.

Frau Kühl, jeder weiß, dass Fahrradfahren gut fürs Klima und die Umwelt ist. Welche weiteren Gründe sprechen aus Ihrer Sicht dafür, sich aufs Rad zu schwingen?

Radfahren hilft dabei, Stress abzubauen. Dass wir uns aus eigener Kraft fortbewegen und etwas für unsere eigene Fitness tun, macht uns zufriedener. Außerdem können wir uns beim Fahrradfahren mit anderen Verkehrsteilnehmern austauschen. Wenn ich im Auto sitze, bin ich von den anderen abgekapselt und in einer Art Blase unterwegs. Mit dem Rad ist man einfach näher dran an den Mitmenschen.

Braucht es eine bessere Infrastruktur, damit noch mehr Menschen Fahrrad fahren?

Wir brauchen ein gutes öffentliches Verkehrsnetz mit einer guten Radinfrastruktur, die möglichst getrennt ist vom Autoverkehr. Radfahrer fühlen sich sicherer und sind es tatsächlich auch, wenn man Radwege durch Poller abtrennt oder den Radverkehr auf einer anderen Route leitet als den Autoverkehr. Zudem brauchen wir durchgängige Radwege, damit Radfahrer ohne Unterbrechungen oder Hindernisse zum Ziel kommen. Damit helfen wir vor allem Kindern und älteren Menschen, die nicht so sicher mit dem Rad unterwegs sind.  

Woran liegt es, dass uns vieles davon in Deutschland bisher fehlt?

In den vergangenen Jahrzehnten haben wir in Deutschland bei der Verkehrs- und Städteplanung vom Auto aus gedacht. Das hat dazu geführt, dass das Auto den öffentlichen Raum übernommen hat – dies gilt sowohl für den ruhenden als auch für den fließenden PKW-Verkehr. Dabei ist uns der Raum zum Leben abhandengekommen. Für uns ist es selbstverständlich, weil wir es nicht anders kennen. Diese Abhängigkeit vom Auto ist jedoch fatal. Einerseits haben wir das Gefühl, dass wir ohne gar nicht vorankommen. Andererseits ist unsere Lebensqualität enorm eingeschränkt. Besonders betroffen sind Kinder, die gar nicht mehr auf der Straße spielen können, weil sie dort keinen Platz haben, oder nicht allein zur Schule gehen können, weil es zu gefährlich ist.

Das zu ändern, klingt nach einer Mammutaufgabe. Wie schaffen wir die Wende hin zu mehr Lebens- und Aufenthaltsqualität auf unseren Straßen?

Wir haben die Vorstellung davon verloren, wie unsere Städte ohne Autos aussehen. Genau an dieser Vision müssen wir aber arbeiten. Ein Anfang ist dort gemacht, wo wir das Auto aus einzelnen Straßen verbannen. Das allein reicht aber nicht. Leere, zubetonierte Flächen bieten an sich noch keine Aufenthaltsqualität. Der nächste Schritt besteht darin, die freien Flächen zu entsiegeln und umzugestalten – beispielsweise in Grünflächen. Mit Blick auf die Klimaanpassung wird das in Zukunft ohnehin notwendig sein, um Städte in den Sommermonaten zu kühlen.

Autofreie Straßen funktionieren vielleicht in Großstädten. Aber was machen wir in Orten, wo man ohne Auto noch nicht einmal zum Supermarkt kommt, weil dieser weit entfernt liegt?

Das ist eine Fehlplanung, die ab den 2000er-Jahren ihren Lauf genommen hat. Der Ansatz war damals, die Einzelhandels-Standorte dezentral zu bündeln. Diese Standorte sind so konzipiert, dass man vor allem gut mit dem Auto dort hinkommt. Im Umfeld dieser Supermärkte gibt es kaum Gehwege oder Fahrradständer. Heute denken Städte- und Verkehrsplaner in eine andere Richtung. Alte Ideen wie die Stadt der kurzen Wege, ein Leitbild der Stadtplanung aus den 1980er Jahren, sind wieder in Mode. Heute spricht man von der 15-Minuten-Stadt – ein Konzept, das gerade an Fahrt gewinnt. Es soll die Versorgungsangebote wieder zurück in die Quartiere holen. Kindertagesstätte, Apotheke, Arzt – all das soll in gerade einmal einer Viertelstunde zu Fuß oder per Fahrrad erreichbar sein.

Gibt es Länder, von denen wir in Deutschland in Hinblick auf die Planung der Fahrradinfrastruktur lernen können?

In punkto Siedlungsentwicklung und Infrastruktur können wir einiges von den Niederländern lernen. Wenn dort ein neuer Siedlungsraum angelegt wird, denken die Planer zuerst an den Fahrrad- und öffentlichen Nahverkehr. Der Autoverkehr ist dort zweitrangig. Man kann mit dem Auto zwar zur Wohnung fahren, aber man kann es dort nur sehr begrenzt und in vorgesehenen Parkbereichen abstellen. Die kurzen Wege – beispielsweise die Wege innerhalb der Siedlung – sind  primär für Fußgänger und Fahrradfahrer bestimmt. Autos sind hier zu Gast. Für die Anwohner ist es dann auch viel logischer, sich aufs Fahrrad zu schwingen. Viel unbequemer ist es, sich auf den längeren Weg zur Sammelgarage zu machen, wo das Auto geparkt ist. Zudem bauen die Niederländer die Verkehrswege so, dass Fahrradfahrer getrennt vom motorisierten Verkehr und von Fußgängern unterwegs sind – Radfahrer bewegen sich also abseits des Autoverkehrs fort. An großen Kreuzungen wird der Radverkehr über separate Brücken oder durch Tunnel geführt. Auch außerhalb der Ortschaften gibt es ein geschlossenes Fahrradnetz. Die Fahrradwege zeichnen sich durch eine hohe Durchgängigkeit aus.

Wir haben in Deutschland jahrelang in den Ausbau der Straßen und Parkplätze investiert und damit viele betonierte Fakten geschaffen. Das können wir nicht einfach zurückdrehen, oder?

Das ist richtig. Gleichzeitig zeigt das Beispiel der Pop-up-Radwege, die in einigen Städten eingerichtet wurden, dass die geschaffene Infrastruktur nicht so starr ist wie wir oft glauben. Technisch betrachtet ist es ziemlich einfach, eine Pop-up-Radspur einzurichten. Man entzieht dem Autoverkehr eine Fahrspur und widmet sie dem Radverkehr. Wir nutzen den Straßenraum also anders, indem wir ihn neu zuweisen. Auf den improvisierten Radwegen können Radfahrer sogar nebeneinander fahren.

Aber auch für Pop-up-Radwege fehlt mancherorts die Akzeptanz. Was kann man da tun?

Für solche Maßnahmen braucht es politische Unterstützung. Viele Stadtverwaltungen würden neue Konzepte wie Pop-up-Radwege gerne umsetzen, sehen sich aber dadurch gehemmt, dass es rechtliche Hürden gibt oder politischen Widerstand. Viele Dinge lassen sich bereits mit einfachen Mitteln ändern, aber wir müssen die Veränderung auch zulassen. Es geht darum, Anreize fürs Fahrradfahren zu schaffen, um unsere Umwelt lebenswerter zu gestalten.

 

Fahrradboom - und nun? Befragung zur Fahrradnutzung

Das Team der Professur Radverkehrsmanagement an der Ostfalia-Hochschule für angewandte Wissenschaft führt derzeit eine Befragung zum Fahrradboom durch. Dabei geht es um die Frage, was es mit dem Fahrrad-Verkaufsboom auf sich hat. Ist es eher ein Konsumtrend, Freizeitspaß oder der Beginn einer Radverkehrswende?

Jetzt teilnehmen: https://bit.ly/3PiJl7E

28 Prozent
aller Fahrten legten Niederländer im Jahr 2019 mit dem Fahrrad zurück.
Quelle: Niederländisches Infrastrukturministerium, The Netherlands

80+ Prozent
der Deutschen nutzen das Fahrrad.
Quelle: Bundesministerium für Digitales und Verkehr

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