Bunte Blumen in der Dunkelheit
Die Geschichte begann 1853 mit dem Fundraising eines Grafen. Heute betreut die Blindeninstitutsstiftung Menschen, die kaum sehen können und zudem schwerbehindert sind. Mit Unterricht und Therapien, mit moderner Technik und farbigen Spielen. Vor allem aber mit Herzblut und Empathie.
Am Boden raschelt das Herbstlaub. Unter den Blättern haben sich Marienkäfer versteckt, rot mit schwarzen Punkten. Ist da nicht gerade wieder einer durchs Bild gekrabbelt? In der nächsten Sequenz schwirrt ein zwitschernder Vogel über die Matte – klopft man auf die hellen Beutel, dann gibt es Futter für den Piepmatz. In der nächsten Projektion geht es um Blumen: Berührt man die farbenfrohen Pflanzen nur lange genug,dann wachsen sie zu großer und prachtvoller Blüte heran.
Das virtuelle Interaktionsspiel mit seinen vielen Motiven gehört zum Therapieprogramm des Blindeninstituts im Münchner Stadtteil Neuhausen. Hier, in einem der Räume für Seh- und Wahrnehmungsförderung im Keller des Instituts, bedienen Kinder und Jugendliche mit erkennbarer Freude die Bildschirme mit den Vögeln und Blumen.
Bis dahin war es ein langer Weg. Die Historie der Blindeninstitutsstiftung reicht 170 Jahre zurück. Damals war es ein gewisser Moritz Graf zu Bentheim-Tecklenburg-Rheda, der 1852 in Würzburg einen Gedichtband schrieb und ihn via Zeitungsannonce zum Verkauf anbot – mit der Ankündigung, den Erlös blinden Menschen zugutekommen zu lassen. In kurzer Zeit sammelte er 1.400 Gulden ein und legte damit den Grundstein für den Bau der ersten Blindenschule in Unterfranken, die schon Ende 1853 die ersten sechs Kinder täglich besuchten: Fundraising im 19. Jahrhundert.
Neustart nach finsteren Jahren
Im Lauf seiner Geschichte erlebte der Blindenobsorgeverein, wie er ursprünglich hieß, viele nstere Jahre, vor allem in der NS-Zeit, als behinderte Menschen als minderwertig erachtet und oft zwangssterilisiert wurden. Anfang der 1970er- Jahre stand das Institut dann aufgrund des massiven Rückgangs an Schülerinnen und Schülern vor dem Aus.
Es war Zeit für einen Neustart, für eine Neupositionierung, für die Gründung der Blindeninstitutsstiftung in ihrer heutigen Form. Gedacht für Menschen, die nicht oder nur kaum sehen können und die dazu unter einer schweren Mehrfachbehinderung leiden. Diese Nische war bis dahin nicht besetzt. Kinder und Jugendliche werden hier gefördert, aber auch Erwachsene. Auch eine Beratungsstelle für Senioren gibt es.
Sechs Standorte hat die Stiftung heute, neben dem Hauptsitz in Würzburg gibt es eine Zweigstelle in Schmalkalden in Thüringen und fünf Institute in Bayern: in Aschaffenburg, Kulmbach, Rückersdorf, Regensburg. Und eben in München, im denkmalgeschützten Gebäude des ehemaligen Armenkinderhauses aus dem Jahr 1881, wo 160 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen sechs und 20 Jahren betreut werden. Die Mehrzahl, rund 100 Mädchen und Jungs, besucht vormittags den Schulunterricht und danach die Heilpädagogische Tagesstätte, nachmittags um halb fünf werden sie wieder abgeholt. Manche sind an den Schultagen im Internat und fahren am Wochenende zur Familie. Und 25 leben hier das ganze Jahr. In den meisten Fällen, weil die Eltern mit der Betreuung überlastet und überfordert wären. Weil sie keine Kraft haben. Und nicht zuletzt, weil die Kinder hier optimal gefördert werden.
Es ist ein Raum, um Barrieren abzubauen - Mit Feingefühl, Empathie und viel Geduld
Etwa zehn Kinder sind sogar an Heiligabend hier, dann feiern alle zusammen – mit einem Christbaum und vielen leuchtenden Kerzen. Damit sich das Leben an Weihnachten etwas aufhellt.
„Das sind die Kinder, für die wir eine Heimat geworden sind“, sagt Dorit Wiedemann, „ein Familienersatz.“ Die Institutsleiterin in München erzählt lange von den vielen Aufgaben und den unterschiedlichen Herausforderungen, die sie hier gemeinsam zu meistern haben. Die Lehrkräfte, Pädagogen, Mediziner und Therapeuten bringen nicht nur Expertise und Wissen mit, sondern auch Leidenschaft und Herzblut. Viel Feingefühl und Empathie. Und viel Geduld. Denn hier geht alles nur sehr langsam voran, in kleinen Schritten. Hier fährt man auf Sicht.
„Ein Schwerpunkt in unserer Betreuung liegt auf den Strategien zum Erlernen lebenspraktischer Fähigkeiten“, sagt Dorit Wiedemann und meint damit die für einen gesunden Menschen automatisierten Alltäglichkeiten. Die Jacke anziehen, den Reißverschluss zuziehen, die Mütze aufsetzen oder den richtigen Knopf auf der Fernbedienung drücken – für die Kinder hier sind das alles langwierige und schwierige Prozesse. Denn sie sind ja nicht nur wegen ihrer physischen und kognitiven Behinderung eingeschränkt, sondern auch, weil sie aufgrund ihrer visuellen Beeinträchtigung Vorgänge nicht durch Zuschauen und Hinschauen verinnerlichen können wie die meisten anderen Kinder in ihren ersten Lebensjahren. Sie sehen nicht, wie die Welt funktioniert.
So versuchen sie hier, den Kindern etwas Selbstständigkeit für jetzt und für ihr späteres Leben mit auf den Weg zu geben – wenn sie mit Anfang 20 in ein Erwachsenenwohnheim übersiedeln. Denn dass irgendjemand von ihnen jemals ein eigenständiges Leben führen kann, ganz allein, das ist aussichtslos.
Motorische Probleme beim Essen
Die ganze Komplexität der Betreuung verdeutlicht der Rundgang durch das Haus an der Münchner Romanstraße. Da gibt es die Ergotherapie für die Verbesserung der Motorik, die Logopädie fürs Sprechen, schließlich können sich die meisten der Kinder und Jugendlichen hier nicht verständlich artikulieren. Da gibt es die Küche, in der die Speisen fachgerecht püriert werden müssen, haben doch fast alle hier motorische Probleme beim Verarbeiten des Essens. Schluckkoststufe 1 heißt das im Fachterminus, wenn die Nahrung feinstmöglich passiert wird, in eine breiig glatte Konsistenz. Da gibt es die Physiotherapie und es gibt die Orthoptik, eine Form der Augenheilkunde, in der Sehstörungen diagnostisch und therapeutisch behandelt werden. Eine Art Physio fürs Auge. Und da gibt es die Lehrkräfte am Vormittag und die Erzieherinnen am Nachmittag. Alles in allem 380 Mitarbeitende für 160 Kinder.
Um die Fürsorge für die 160 Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten, braucht es natürlich Geld, viel Geld. Von den 130 Millionen Euro der gesamten Blindeninstitutsstiftung beträgt der Jahresumsatz im Haus in München 20 Millionen. Kostenträger sind dabei die Regierung von Oberbayern für den Schulbetrieb, die Krankenkassen für die einzelnen Therapieformen und der Bezirk von Oberbayern, der die Frühfördermaßnahmen übernimmt sowie die Pflegesätze. Und da gibt es noch die privaten Spenden, die mit rund 150.000 bis 200.000 Euro im Jahr nur einen Bruchteil des Gesamtetats ausmachen, wie Dorit Wiedemann sagt. Die aber doch so wichtig sind. Für Lernhilfen zur Verbesserung der Wahrnehmung etwa, wie dieses interaktive, rund 10.000 Euro teure Projektionsgerät mit den Käfern und Blumen im Förderraum. Oder für das Taschengeld für die Ganzjahresbewohner, das seit vielen Jahren pünktlich zu Weihnachten von einem Mann gezahlt wird, der früher selbst als Kind in einem Heim lebte – und der jetzt etwas Gutes tun möchte.
Ein Raum, um Barrieren abzubauen
Rein privaten Initiativen verdanken sie auch den wunderbaren barrierefreien Spielplatz, das Vorzeigeobjekt des Münchner Instituts. Eine heiter-bunte Anlage mit Wippen, Rutschen, Schaukeln und ringsherum mit einer fröhlich bemalten Mauer – ein Hauch von Hundertwasser. Längst ist das Blindeninstitut mit seinem Spielplatz ein öffentlicher Treffpunkt geworden. Gesunde Kinder aus dem Viertel begegnen hier zum ersten Mal Gleichaltrigen, die sich mit einem sichtbaren Handicap durchs Leben kämpfen und die trotzdem Spaß haben und Glücksgefühle empfinden. Es ist ein Raum, um Barrieren abzubauen.
Zum Abschied geht es um die Perspektive, um eine Vision für die Zukunft. Dorit Wiedemann spricht vom Prüfstand, auf dem exklusive Einrichtungen wie sie in Zeiten der Inklusion nun stünden. Viel inkludieren geht hier aber nicht, zu schwer sind die Beeinträchtigungen der Kinder, Eingliederungen in Regelschulen undenkbar. „Uns muss und uns wird es weiterhin geben“, sagt Wiedemann, „wichtig ist aber, dass wir uns öffnen und dass wir in der Gesellschaft noch besser ankommen.“ Damit es weniger Hemmungen im Umgang mit behinderten Kindern gibt. Und damit das Blindeninstitut sichtbarer wird.
Dieser Artikel ist zuerst in Character erschienen, dem Gesellschaftsmagazin der Bethmann Bank. Weitere Informationen zur aktuelen Ausgabe finden Sie auf unserer Webseite.
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