Hitzacker Dorf - Das Dorf der Zukunft
Im niedersächsischen Hitzacker setzt eine rund 100-köpfige Gruppe nicht nur auf ökologische, sondern auch auf soziale Nachhaltigkeit. Die Bewohner wollen anderen Siedlungen ein Vorbild für gemeinschaftliches Leben auf dem Land sein. Dafür mussten sie lernen, wie gutes Zusammenleben geht.
Am Rande der niedersächsischen Kleinstadt Hitzacker liegt Hitzacker Dorf: Zwölf bunte Holzhäuser, selbstgebaut von den Mitgliedern der hiesigen Genossenschaft. Zäune und eigene Gärten gibt es nicht, alles ist Gemeinschaftsgut. Die Bewohner leben nach ökologischen, sozialen und basisdemokratischen Standards zusammen. Ein Modell, das den Anspruch hat, ein Gegenentwurf zu Großstädten zu sein, die von vielen als anonym, hektisch und überteuert wahrgenommen werden.
Hitzacker Dorf: Gemeinschaft trifft auf Nachhaltigkeit
Die Idee dazu entstand, als im Jahr 2015 viele Geflüchtete nach Deutschland kamen. Die Bewohner des Wendlands setzten sich mit der Initiative ZuFlucht Wendland für eine bessere Versorgung der Geflüchteten ein. Drei von ihnen entwickelten die Vision, ein Dorf der Zukunft zu bauen, das auch diesen eine Heimat bietet.
Von Anfang an von der Idee begeistert waren Rita Lassen und ihre Frau Käthe Stäcker. Die beiden Rentnerinnen leben seit 2020 in Hitzacker Dorf in einer lichtdurchfluteten, gemütlichen Wohnung auf zwei Etagen. Gemeinsam mit anderen engagierten Menschen haben sie 2016 die Genossenschaft Hitzacker/Dorf gegründet und ein 2,3 Hektar großes Grundstück gekauft – am Rande der gleichnamigen Kleinstadt neben einem Gewerbegebiet.
Ökologisch bauen von eigener Hand
Die Mitglieder planten die Häuser aus nachhaltigen Materialien wie Holz, Lehm und Stroh in Eigenregie. Beim Bau erhielten sie Unterstützung von regionalen Firmen, sodass sie die einzelnen Arbeitsschritte nach einer Einweisung selbst umsetzen und 13 Prozent der Bausumme in Eigenleistung erbringen konnten. Auf Nachhaltigkeit achteten sie auch bei der Versorgung ihrer Unterkünfte: Die kompakte Bauweise und in die Lehmwände integrierte Wandheizungen senken den Energieverbrauch. Die Wärme kommt aus einer benachbarten Biogasanlage. Zudem sind die Dächer leicht geneigt und können begrünt werden.
Im Jahr 2021 war der erste Bauabschnitt mit zwölf Häusern fertig, die 40 Wohnungen zwischen 30 und 150 Quadratmetern umfassen. „Alle haben mit angepackt und waren motiviert, im Kleinen etwas Großes zu schaffen“, erinnert sich Lassen. Im Sommer 2024 wird noch das Gemeinschaftshaus fertiggestellt. Hier sollen unter anderem eine Gemeinschaftsküche und ein Gesundheitszentrum entstehen. Im oberen Geschoss befinden sich ein Coworking-Space, zwei Gästezimmer und eine Mitwohnzentrale.
Wohnungen für alle
Wer in eine der Wohnungen einziehen will, muss als Anteilseigner 25 Prozent Eigenkapital aufbringen; das sind, je nach Größe, zwischen 18.000 und 30.000 Euro. Zusätzlich fällt ein monatliches Nutzungsentgelt von sechs Euro pro Quadratmeter an. Wer sich die Anteile für eine Wohnung nicht leisten kann, bekommt Unterstützung aus einem Solitopf, in den Menschen, die mehr Geld haben, einzahlen können.
Die Wohnungen werden in einem ausgewogenen Verhältnis an junge Leute, Alte und Geflüchtete vergeben. „Das ist uns wichtig, weil jeder unterschiedliche Ressourcen und Erfahrungen in das Generationendorf einbringen kann“, sagt Lassen. Außerdem sollen sich regionale Unternehmen ansiedeln. Ein Softwareentwickler, eine Pilzfarm und ein Hersteller nachhaltiger Matratzen sind bereits eingezogen.
Perspektivisch soll das Dorf weiterwachsen: Häuser für rund 300 Bewohner sollen künftig entstehen. Dafür will die Genossenschaft ein weiteres Stück Acker kaufen und das Konzept „Satelliten“ voranbringen. Lassen erklärt: „Das sind Häuser für Mitglieder der Genossenschaft, die aber nicht im Dorf wohnen können, weil es keine freien Wohnungen gibt, oder die lieber außerhalb wohnen möchten.“
Neues Wohnen in Gemeinschaft
Doch bevor es an die Erweiterung geht, sind sich alle Bewohner einig: Sie brauchen eine Pause. Kein Wunder: „Viele haben über Monate oder sogar Jahre hinweg jeden Tag auf der Baustelle geschuftet, haben sich bis über ihre Grenzen hinaus eingebracht“, berichtet die gebürtige Dänin.
Statt Bauen steht deshalb jetzt die Weiterentwicklung der Gemeinschaft im Vordergrund. „Wir alle waren es vorher nicht gewohnt, in einer solchen Form zusammen zu leben, daher lernen und experimentieren wir noch“, sagt Lassen, die zuvor gemeinsam mit ihrer Frau in Hamburg wohnte. Auch für Dagmar Prasse-Brennecke, die mit ihrem Mann Karsten seit Ende 2022 im Dorf lebt, war die Umstellung groß: „Die Gemeinschaft kann eine Herausforderung sein, aber man bekommt viel zurück und entwickelt sich weiter. Ich habe zum Beispiel gelernt, Haltung zu zeigen, etwa bei politischen Themen, und Grenzen zu setzen, wenn ich Zeit für mich brauche.“
Dorfatmosphäre schlägt Quadratmeterzahl
Auch Nadja Abbas, Geschäftsführerin des nachhaltigen Matratzenherstellers Oasia, die vor zwei Jahren mit ihrer Frau Melanie, ihren zwei Kindern sowie ihrem Unternehmen ins Dorf kam, hatte vor dem Einzug Zweifel. Vor allem wegen der kleinen Wohnfläche, die ihnen zur Verfügung stehen sollte. „Vorher lebten wir auf einem weitläufigen Hof“, erzählt sie. Doch den vermisst sie aufgrund der guten Atmosphäre nicht. „Wir sind ein Mitmachdorf, haben zusammen alles aufgebaut – das schweißt zusammen und zeigt, wie viel wir gemeinsam bewegen können.“
Insgesamt leben 46 Frauen, 23 Männer und 27 Kinder aus acht Nationen zusammen im Dorf. Ein bunter Haufen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen. Klar, dass es bei so vielen unterschiedlichen Menschen auch hin und wieder zu Konflikten kommt. „Wir wollen das Dorfleben nicht idealisieren, wir sind kein verträumtes Bullerbü“, sagt Lassen. Bei Entscheidungen, die die Gemeinschaft betreffen, hat jeder Mitspracherecht. Im Plenum diskutieren die Bewohner das Für und Wider – ein langer kommunikativer Prozess. Nur wenn niemand ein Veto einlegt, geht eine Entscheidung durch. Was aber nicht heißt, dass danach alle einer Meinung sind, so Lassen.
Vorbild für andere Siedlungen
Die Akzeptanz dieser vielfältigen Meinungen macht das Dorf der Zukunft, wie es die Bewohner nennen, aus und unterscheidet es von Ökodörfern oder Kommunen. „In Ökodörfern wohnt meist eine homogene Gruppe von Menschen: deutsche, weiße Mittelschicht“, sagt Stäcker. „Wir dagegen sind ein diverses und offenes Dorf, das zeigen will, dass nicht alle gleich sein müssen, um im Sinne einer solidarischen Nachbarschaft gut zusammenzuleben.“ Bei anderen Gemeinschaften stößt das Hitzacker-Dorf-Modell bereits auf Interesse: Die Freie Scholle aus Bielefeld beispielsweise hat sich das Zusammenleben im Wendland genauer angeschaut und will das Prinzip der solidarischen Nachbarschaft wohl übernehmen.
96 Bewohner
leben derzeit in Hitzacker Dorf.
Quelle: Hitzacker Dorf
7,3 Millionen Euro
hat der erste Bauabschnitt gekostet, finanziert aus Eigenmitteln, Krediten und mithilfe von Kleininvestoren.
Quelle: Hitzacker Dorf
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