“Bildung ist ein Grundstein für Unabhängigkeit”
Die Schwestern Hila und Wana Limar engagieren sich seit 16 Jahren für Frauen in Afghanistan und anderen Ländern des globalen Südens. Trotz der Machtübernahme der Taliban versuchen sie mit ihrer Schmuckmarke SEVAR Studios in Afghanistan weiterhin Ausbildungen für Frauen zu Goldschmiedinnen zu ermöglichen.
Frau Limar, Frau Limar, Sie setzen sich für das Recht von Frauen und Mädchen auf Bildung ein. Warum ist das auch unabhängig von Einzelschicksalen wichtig?
Hila Limar: Frauen haben in vielen Ländern keinen Zugang zu Bildung oder bestimmten Berufsfeldern, machen aber die Hälfte der Bevölkerung aus. Das ist ein riesiger Verlust für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder. Außerdem fehlen weibliche Perspektiven und Stimmen, die die Lebensrealität und Bedürfnisse von Frauen zeigen. Je mehr diverse Stimmen wir hören und einbinden, desto reicher an Erfahrungen und Impulsen sind wir als Gesellschaft – das gilt nicht nur für Frauen, sondern auch für non-binäre Menschen und andere marginalisierte Gruppen. Und für Menschen insgesamt ist Bildung natürlich ein wichtiger Grundstein für Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung.
Genau dafür setzen Sie sich mit dem Verein Visions for Children ein. Sie, Hila, seit 2012 als hauptamtliche Leiterin und Sie, Wana, als Botschafterin. Was steckt hinter der Organisation?
Hila Limar: Ich habe Visions for Children e.V. mit Freunden aus dem Studium vor mehr als 16 Jahren gegründet, weil wir zur Verbesserung der Lernbedingungen in unserem Geburtsland Afghanistan beitragen wollten. Wana ist seit 13 Jahren dabei. Gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen entstehen Schulen, Sanitäranlagen und eine bessere Trinkwasserversorgung. Vor Ort stehen immer die lokalen Partner im Fokus. In diesem Sinne sichert auch der Aufbau von Schulkomitees aus Lehrerenden und Eltern die Erfolge langfristig und ohne uns. Denn Studien zeigen: Je besser die Lernumgebung sind, desto erfolgreicher lernen Kinder. So haben wir schon mehr als 20.000 Kinder erreicht.
Welche Projekte laufen aktuell?
Hila Limar: In Afghanistan entstehen Klassenräume und Sanitäranlagen. Außerdem gibt es Fortbildungen und Workshops für Schüler, Schülerinnen und Lehrende. In Uganda läuft ein Projekt, das Zugang zu sauberem Trinkwasser herstellt und gemeinsam mit lokalen Partnern Angebote zur Hygieneaufklärung schafft.
Wana, Sie sind wegen Ihrer Arbeit in der Mode- und Entertainmentbranche und als DJane bekannt. Bei Instagram folgen Ihnen fast 57.000 Menschen. Welche Rolle spielen soziale Netzwerke in Ihrem Engagement?
Wana Limar: Die Kommunikation über Social Media ist eine Möglichkeit, Menschen dort abzuholen, wo sie sind. Die Situation in Afghanistan, aber auch andere Themen wie Entwicklungszusammenarbeit, Antirassismus und Feminismus sind unheimlich komplex. Wenn sich jemand noch nie damit beschäftigt hat, ist die Hemmschwelle oft hoch. Wenn aber Influencerinnen und Influencer, denen ich ohnehin wegen Mode- oder Entertainmentinhalten folge, diese Themen simpel erklären, ist das ein leichter Einstieg für viele Menschen.
Mit der Schmuckmarke SEVAR Studios haben Sie 2020 neben der NGO-Arbeit auch ein Social Business gegründet. Die Gewinne aus dem Verkauf des in Afghanistan gefertigten Schmucks fließen in ein Ausbildungsprojekt, das 15 Frauen zu Goldschmiedinnen ausbildet. Warum engagieren Sie sich nun auch außerhalb von Schulen?
Wana Limar: In Uganda und Afghanistan sind Ausbildungsplätze rar und besonders für junge Frauen schwer zugänglich. Da wollten wir ansetzen. Die Entscheidung für das Schmuckhandwerk entstand im Dialog mit afghanischen Frauen. Die Gewinne reinvestieren wir in das Ausbildungsprojekt, welches gerade durch Visions for Children in Vorbereitung ist. Erst hatten wir an die Ausbildung zur Näherin gedacht, erfuhren aber, dass es auf dem Arbeitsmarkt nur eine geringe Nachfrage gibt. Bei Goldschmiedinnen ist das anders. Die Arbeit der wenigen Frauen ist hochangesehen und entsprechend gefragt.
Im August 2021 zogen die US-amerikanischen und in Folge auch die deutschen Truppen nach mehr als 20-jährigem Einsatz aus Afghanistan ab. Die Taliban haben die Macht übernommen. Wie hat sich das Leben der Menschen im Land seitdem verändert?
Wana Limar: In Afghanistan entwickelt sich die gefährlichste humanitäre Krise weltweit. Laut einer UN-Studie leben 97 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und mehr als die Hälfte ist auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Jeden Tag sterben Menschen an Hunger und Kälte. Darüber hinaus dürfen Mädchen in einigen Regionen nur noch bis zur siebten Klasse zur Schule gehen. Doch es gibt auch innerhalb der Taliban Stimmen, die sich gegen das Bildungsverbot aussprechen. Sie berufen sich auf die Lehren des Islams, die sagen, dass Frauen und Männern gleichberechtigter Zugang zu Bildung zusteht. Daher ist zu hoffen, dass das Verbot aufgehoben wird.
Welchen Einfluss hat die Situation in Afghanistan auf Ihre Arbeit?
Hila Limar: Sie ist seit der Machtübernahme der Taliban von extremer Unsicherheit und Anpassungsfähigkeit gekennzeichnet. So hat die afghanische de-facto-Regierung beispielsweise im Dezember 2022 verboten, dass Frauen in Nichtregierungsorganisationen arbeiten. Und auch auf deutscher Seite ändern sich immer wieder Regelungen in der Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan. Wir müssen immer wieder neue Lösungen finden. Momentan sieht es zum Glück aber so aus, dass die Bundesregierung die geplanten Bildungsprojekte auch weiterhin fördert.
Außenministerin Annalena Baerbock spricht oft von feministischer Außenpolitik. Gleichzeitig monieren Kritiker, dass die Entscheidung zum Abzug deutscher Truppen aus Afghanistan Frauenrechte im Land um Jahrzehnte zurückgeworfen hat. Wie stehen Sie dazu?
Hila Limar: Gleichberechtigung muss im Zentrum einer wertegeleiteten Außenpolitik stehen. Wir finden eine Feministische Außenpolitik daher absolut zeitgemäß und notwendig. Deutschland war jahrelang in Afghanistan aktiv und hat die finanzielle Abhängigkeit des Landes mit aufgebaut. Dann wurde die Bevölkerung im August 2021 sich selbst überlassen. Wir sehen die internationale Gemeinschaft hier ganz klar in der Verantwortung, gerade jetzt mit der Zivilbevölkerung solidarisch zu sein. Jedoch müssen wir auch darauf achten, wofür der Begriff feministische Außenpolitik verwendet wird. Wenn er beispielsweise als Begründung genutzt wird, keine humanitäre Hilfsleistungen nach Afghanistan zu schicken, weil die Taliban Frauen unterdrücken, geht das komplett am Ziel vorbei. Denn Hilfe zu versagen, hat nichts mit Feminismus zu tun.
Wana Limar: Sinn dieser Außenpolitik kann auch nicht sein, dass sogenannte westliche Werte einer anderen Kultur übergestülpt werden. Vielmehr sollte Außenpolitik in erster Linie die Stimmen und Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung hören und ernst nehmen. Jedes Land hat seine eigenen Komplexitäten, die Außenstehende kaum greifen können. Daher braucht es partnerschaftliche Zusammenarbeit mit lokalen Expertinnen und Experten.
Welche Bedeutung hat für Sie der Weltfrauentag?
Wana Limar: Teile der afghanischen Bevölkerung feiern den 8. März schon immer als weltweiten Frauentag. Unsere Familie gehört dazu, sodass wir an diesem Tag unserer Mutter, unseren Tanten, Omas und anderen Frauen gratulieren. Gleichberechtigung kann natürlich nicht an einem Tag entstehen, trotzdem ist der 8. März wichtig, um Dialoge und Aktionen anzustoßen.
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