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Menschen schauen am Tag im Schnitt 77-mal in ihre E-Mails

Text von Jessica Braun
14.03.2024
Gesellschaft

Mal wieder im Facebook-Feed versackt? In der Flut der App-Nachrichten die entscheidende Botschaft verpasst? Die digitale Welt kostet mentale Ressourcen und lenkt uns von den wichtigen Dingen ab, sagt die amerikanische Wissenschaftlerin Gloria Mark. Seit 20 Jahren erforscht sie die Aufmerksamkeitsspanne von Menschen am Arbeits­platz. Ein Gespräch über die Frage, wie man im digitalen Dauerstress den Überblick behält. 

Gloria Mark, Chancellor's Professor of Informatics University of California | © Stefania Rosini
Gloria Mark, Chancellor's Professor of Informatics University of California
Foto: Stefania Rosini

Frau Professor Mark, wir sitzen gerade beide vor unseren Computern. Wie sehr reizt es Sie, nebenbei Ihre E-Mails zu checken, während wir sprechen? 

Das reizt mich gar nicht. Ich konzentriere mich auf unser Gespräch. Bei einer Video­konferenz mit nur zwei Teilnehme­rinnen wäre es auch zu auffällig, wenn eine mit ihrer Aufmerksamkeit abschweift. Das verstößt gegen soziale Normen. Sind mehrere Menschen in einem Call, kann es aber schon mal vorkommen, dass Teilnehmende mit einem Auge ihre Nachrichten lesen. 

Was macht E-Mails so unwider­stehlich? 

Zunächst einmal enthalten sie häufig Informationen, die für unsere Arbeit wichtig sind. Wir müssen sie lesen, um auf dem neuesten Stand zu bleiben. Wir tun das aber auch, um das sogenannte ­Sozialkapital aufrechtzuerhalten: Ich beantworte Ihre E-Mail, weil ich erwarte, dass Sie meine beantworten. Dahinter steht das Be­dürf­nis, mit unserem Umfeld gut auszukommen. Außerdem bekommen wir hin und wieder auch sehr nette E-Mails. Diese wirken auf uns wie eine Belohnung. Sie animieren uns, ständig den Eingangsordner zu kontrollieren. Es ist, als würde man an einem Spielautomaten in Las Vegas spielen: ­Irgendwann wird ein Gewinn ausgeschüttet. Also spielt man weiter. Das nennt man intermittierende Belohnungen – eine Art Verhaltenskonditionierung. All das führt dazu, dass Menschen im Schnitt 77-mal am Tag in ihre E-Mails schauen. Das können wir mit Log-­Programmen messen. 

Sie erforschen die menschliche Auf­­merksamkeitsspanne bereits seit etwa 20 Jahren, also lange vor dem Durchbruch der Smartphones. Was waren damals die größten 
Ablenkungen am Arbeitsplatz? 

Schon damals war es die E-Mail. Sie ermöglichte es uns, mehr zu arbeiten: schneller zu schreiben, schneller an Informationen zu kommen, schneller mit anderen in Kontakt zu treten. Damit vergrößerte sich aber auch das Tätigkeitsfeld. Menschen begannen, häufiger von einer Aufgabe zur nächsten zu wechseln, weil sie mehr und vielfältigere Arbeit hatten. Über die Jahre sind ­etliche neue Medien dazugekommen, die uns ablenken. Mit der Einführung des iPhones 2007 begann die Ära der Smartphones – wahrscheinlich die größte Veränderung für unsere Aufmerksamkeitsspanne. Die zweitgrößte sind die sozialen Medien: Facebook 2004, Twitter 2006, dann Instagram, TikTok, Snapchat, WhatsApp. Als wir 2003 mit den Messungen begannen, ­betrug die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne eines Menschen am Arbeitsplatz 2,5 Minuten. Mittlerweile dauert es im Durchschnitt nur noch etwa 47 Sekunden, bis die Aufmerksamkeit sich vom Bildschirm auf etwas ­anderes verlagert. 


Dieser Artikel ist zuerst in 
Character erschienen, dem Gesellschaftsmagazin der Bethmann Bank. Weitere Informationen zur aktuelen Ausgabe finden Sie auf unserer Webseite.

Lässt sich diese Beschleunigung auch abseits des Arbeitsplatzes feststellen? 

Ja. Film- und Fernsehszenen werden seit Jahren ebenfalls kürzer. Das haben wir gemessen. Im Durchschnitt dauern sie heute nur noch etwa vier Sekunden. Dann wechselt die Einstellung. 

Ist das der Grund für unsere immer knappere Aufmerksamkeitsspanne? 

Wahrscheinlich nicht. Aber ich glaube schon, dass es dazu beiträgt. Die Regisseure und Regisseurinnen von Fernseh- und Kinofilmen schneiden ihre Werke so, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu binden. Deutlich wird das zum Beispiel bei Filmen der Transformers-Reihe. Die Szenen wechseln etwa alle anderthalb Sekunden, viel zu schnell, um der Handlung zu folgen. Aber es treibt den Adrenalinspiegel in die Höhe. Dieser Nervenkitzel lockt die Leute ins Kino. Wenn ich an einem Text arbeite, ertappe ich mich manchmal dabei, dass ich grundlos nach meinem Handy greife. Woher kommt dieser Impuls und wie verbreitet ist er? 

Unseren Untersuchungen zufolge ist die Hälfte aller Ablenkungen bei der Arbeit selbst verursacht. Das heißt, es ist genauso wahrscheinlich, von einer Mail oder einem Anruf gestört zu werden, wie sich selbst zu unterbrechen. Wir handeln dabei mit der sogenannten automatischen oder reflexartigen Aufmerksamkeit. Nach dem Telefon zu greifen ist so ein Muster. Es ist zur Gewohnheit geworden und damit das Gegenteil einer kontrollierten Reaktion, bei der das Verhalten beabsichtigt ist.

Also Muskelgedächtnis statt eines freien Willens? 

Wenn darüber diskutiert wird, solche Technologien zu regulieren, geht es genau darum: Kann der Mensch frei über seine Handlungen entscheiden oder liegen diese automatischen Reaktionen außerhalb unserer Kontrolle? 

Wie sehen Sie das? 

Ich glaube, dass Menschen dieses reflexartige Verhalten überwinden können, indem sie sich ihr Verhalten bewusst machen. 

Wie lässt sich diese Willensstärke trainieren? 

Indem man die eigenen Intentionen wiederholt überprüft. Das Ziel ist es, bei der Arbeit ein sogenanntes Meta-bewusstsein für die eigenen Handlungen zu entwickeln: Es geht darum, bestimmte Verhaltensweisen zu erkennen, während wir mittendrin stecken. Wann immer Sie zum Beispiel den Drang verspüren, Ihre Aufmerksamkeit von der eigentlichen Aufgabe auf etwas anderes zu lenken, können Sie sich fragen: Woher kommt dieses Bedürfnis? Bei mir persönlich ist es meistens Langweile oder ich prokrastiniere, schiebe also etwas vor mir her. Mit etwas Übung gelingt es, sich selbst 
zu stoppen, die Motivation zu hinterfragen und, statt ihr automatisch nachzugeben, eine bewusste Entscheidung zu treffen. Etwas wie: Ich arbeite noch 20 Minuten und erst dann öffne ich Instagram. 

Am Ohr das Telefon, mit der Kollegin gestikulieren und gleichzeitig die Präsentation auf dem Bildschirm bearbeiten – Multitasking galt früher als erstrebenswerte Fähigkeit. Warum hat sich das geändert? 

Es beeinträchtigt unsere Leistung. Zum einen machen Menschen mehr Fehler, wenn sie multitasken. Zweitens brauchen sie länger, um ihre Aufgaben zu erledigen. Jede Aufgabe ist mit vielen verschiedenen Informationen verknüpft. Schwenkt die Aufmerksamkeit zum Beispiel von einer Kalkulation zu einer E-Mail, müssen all die dazugehörenden Informationen erst wieder geistig hervorgekramt werden. Das kostet jedes Mal ein wenig Zeit. Und der dritte Grund, warum Multitasking nicht gut ist, heißt Stress. Unsere Studien haben gezeigt, dass es den Blutdruck und die Herzfrequenz hochtreibt. 

Angenommen, es gilt, ein großes Projekt zu bearbeiten, das alle Aufmerksamkeit erfordert: 
Wie sollte der Tag dafür strukturiert sein?

Die wenigsten von uns kommen morgens schon voll konzentriert an den Schreibtisch. Es braucht ein wenig Anlaufzeit. Mein Tipp: Checken Sie zuerst Ihre E-Mails, erledigen Sie die wichtigen und denken Sie dann nicht weiter darüber nach. So können Sie sich ganz auf Ihr Projekt konzentrieren. Bei den meisten Menschen ist die Aufmerksamkeit am späten Vormittag um 11 Uhr und am Nachmittag gegen 15 Uhr auf dem Höhepunkt. Machen Sie sich zwischendurch bewusst, was Sie gerade tun und wie Sie sich fühlen. Aufmerksamkeit ist eine begrenzte Ressource – und sich über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren strengt an. Werden Sie müde? Dann ist es an der Zeit, eine Pause zu machen. 

Wie lassen sich die Batterien wieder auffüllen? 

In der Natur spazieren zu gehen oder Sport zu treiben ist ideal, um sich zu erholen. Ist dafür keine Gelegenheit, suchen Sie sich eine Tätigkeit, die Sie beschäftigt, ohne Ihre Aufmerksamkeit zu sehr zu fordern. Stricken ist so eine Routineaktivität. Es beruhigt und entspannt, man muss dabei nicht nachdenken. Der Verstand arbeitet im Hintergrund aber weiter. Auch diese geistigen Routineaktivitäten haben ihre Zeit: Zwischen 13 Uhr und 14 Uhr ist das Bedürfnis danach am größten.

Es ist also in Ordnung, zwischendurch mal Candy Crush auf dem Handy zu spielen? 

Absolut. Sie sollten sich jedoch einen Timer für etwa 10 Minuten stellen. Solche entspannenden Routineaktivitäten machen Menschen laut unseren Untersuchungen nämlich am glücklichsten – wir können damit Stunden verbringen. Den ganzen Arbeitstag mit Stricken oder Candy Crush zu verbringen, das können sich jedoch wohl nur die wenigsten erlauben.

 

Über Gloria Mark

Die Psychologin Gloria Mark ist Informatikprofessorin an der University of California in Irvine. Unter anderem erforscht sie, wie die Digitalisierung das Denken und Arbeiten verändert. Ihr neues Buch "Attention Span" - Aufmerksamkeitsspanne - ist bei Hanover Square Press erschienen.

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