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Glasklarer Einblick in die Mitte der Gesellschaft

Text von Pascal Morché
07.06.2024
Gesellschaft
© Lars Nickel

Lars Nickel ist Fensterputzer und Fotograf. So erhält er einen doppelten Eindruck davon, wie Menschen wohnen und wie sich ihr Wohnen verändert – oder eben nicht verändert. Für Character besuchte er einige seiner Motive nach knapp zehn Jahren neu und liefert neue Einblicke in Lebenswelten, auch während der Pandemie.

Als Fensterputzer sorgt Lars Nickel bei Berlinern für Durchblick und als Fotograf sorgt er für Einblick, nämlich in ihre privaten Wohnungen. Nickel stellt Menschen in ihrem unmittelbaren persönlichen Lebensumfeld vor. „Meine Fotos zeigen einen Querschnitt durch die bürgerliche Mitte der Gesellschaft“, sagt er. Diese Mitte verortet er dort, wo man es sich leistet, „einen Fensterputzer zu beschäftigen“.
Einen Fensterputzer, der eben auch Künstler ist und fotografiert.

Zwei Drittel seiner Kundschaft ließen sich vor knapp zehn Jahren von dem heute 52-jährigen Fotografen für dessen Projekt „Beletage“ ablichten. Sein Reinigungsjob ist dabei der Schlüssel zum Motiv, also in die jeweilige Wohnung. „Entstanden sind normale Bilder von ganz normalen Menschen“, so Nickel. Bilder aber auch von großer Privatheit. Dass man Menschen mit ihrer Wohnung ebenso erschlagen kann wie mit einer Axt, befand schon vor 100 Jahren der Berliner Zeichner und Fotograf Heinrich Zille.

Selten kommt man Menschen so nahe wie in ihrer Wohnung. Hier präsentieren sie sich, stellen sich dar, sind in einer gewissen Weise nackt. 
Lars Nickel, Fensterputzer und Fotograf

Sein geistiger Nachfahre, Lars Nickel, kann das nur bestätigen: „Viele Leute denken, dass sie individuell wohnen, dabei wohnen sie gar nicht individuell.“ Ihn interessiere an Wohnungen und ihren Bewohnern das „Unspektakuläre, das Banale“. Dabei ist der Blick dieses Fotografen nicht voyeuristisch, sondern dokumentarisch und bleibt auch stets behutsam. Denn: „Selten kommt man Menschen so nahe wie in ihrer Wohnung. Hier präsentieren sie sich, stellen sich dar, sind in einer gewissen Weise nackt.“ Das Zeigen der eigenen Wohnung als Akt der Selbstentblößung.

„Die Mutter, eine Apothekerin in Friedrichshain, und ihre Tochter fühlen sich in ihrem Stadtviertel und in ihrer Wohnung fest verwurzelt“, sagt Fotograf Nickel. Die Tochter studiert inzwischen und die Mutter trägt Brille, doch gewisse Dinge und Verhaltensweisen bleiben: Das Klavierspiel wird weiterhin ernst genommen, denn die IKEA-Lampe ist einem Metronom gewichen, und die Leidenschaft der Tochter für Converse-Turnschuhe scheint ebenfalls ungebrochen. Nickel: „Ich bin mir sicher, das Klavier wird immer in dieser Wohnung bleiben.“

Neun Jahre liegen zwischen diesen beiden Fotos.

© Lars Nickel

Zweimal dieselbe Dame aus Berlin-Tiergarten:

Vor dem Bücherregal ist sie 60 Jahre alt, auf dem Foto daneben in grüner Bluse fast 70. Die ehemalige medizinisch-technische Radiologieassistentin liebt ihren Kiez. „Meine Altbauwohnung liegt in einer ruhigen Straße mit Kopfsteinpflaster, die Spree ist in der Nähe und der Tiergarten, die grüne Lunge der Stadt, nicht weit entfernt.“ Aus Erzählungen wisse sie, dass unter den früheren Bewohnern des Hauses viele Juden waren. „Man erkennt es auch an den vielen Stolpersteinen vor den Häusern auf der Straße.“

Gemeint sind Gedenktafeln, die an das Schicksal der Menschen während der NS-Zeit erinnern. Ein einschneidendes persönliches Ereignis ließ sie die Wohnung umgestalten. Nachdem ihr Mann gestorben war, begann ein neues Leben: deutlich freier und selbstbewusster, ohne schwere Couchgarnitur, ohne Hängeregal und dunkle Auslegware. „Die Dame wollte nicht weiter wohnen wie gewohnt“, kommentiert Fotograf Nickel die beachtliche Metamorphose nach dem Schicksalsschlag.

© Lars Nickel

Zwei Fotos, zwischen denen acht Jahre liegen.

Zwei Fotos, zwischen denen acht Jahre liegen. Die Mutter arbeitet noch immer als Ärztin, während ihre Tochter nun studiert und nicht mehr zu Hause wohnt. „Den Abnabelungsprozess der beiden Frauen voneinander dokumentiert das Outfit der jungen Studentin mehr als die Veränderung, die in dieser Küche stattgefunden hat“, beschreibt der Fotograf die Szenerie.

Allerdings hat sich die Mutter eine neue Dunstabzugshaube und eine neue Arbeitsplatte geleistet. Für die Beschallung beim Kochen und Essen wurde ein Lautsprecher über die Kaffeemaschine gehängt. „Für mich ist die Küche ein Platz für uns alle. Mehr noch, sie ist wirklicher Lebensraum“, sagt die begeisterte Bewohnerin dieser Erdgeschosswohnung eines Hinterhauses am Prenzlauer Berg.

© Lars Nickel

Dass seine Fotos durch die Coronapandemie eine neue Aktualität bekommen würden, konnte Lars Nickel nicht wissen, als er vor fast zehn Jahren auf den Auslöser drückte. „In der Pandemie mit Lockdowns und Ausgangssperren, mit Homeoffice und Homeschooling ist vielen erst bewusst geworden, was Wohnen wirklich heißt und wie wichtig, wie existenziell eine Wohnung für uns ist.“ Außerdem bemerkt der Fotograf, „dass jetzt nach Corona deutlich mehr Hometrainer, Stepper und Laufbänder in den Wohnungen rumstehen“. Ein ganz besonderer Reiz liegt in jenen Fotos, die eigens für die voranstehenden Seiten gemacht wurden: Sie zeigen dieselben Menschen am selben Ort ihrer Wohnung, jedoch im Abstand von mehreren Jahren. Die einen wohnen wie gewohnt, andere haben sich und ihre Wohnung vollkommen geändert.

Dass es auf den Fotos zumeist Frauen sind, die sich und ihre Wohnung zeigen, könnte irritieren. Nickel interpretiert dies mit tradiertem Rollenverständnis. „Ein Fensterputzer hat hauptsächlich mit Frauen zu tun. Sie engagieren mich, sie machen die Termine – und wenn doch mal der Mann am Telefon ist, dann sagt er: ‚Für Wohnung und Fenster ist meine Frau zuständig.‘“ Und noch etwas ist Nickel bei seinen Porträtierten aufgefallen: „Frauen sind im Gegensatz zu Männern viel mutiger, sich und ihre Wohnung zu präsentieren, und sie hatten auch viel mehr Spaß, bei diesem Fotoprojekt mitzumachen.“

Selten wird der Fensterputzer Lars Nickel von Männern engagiert, denn für die Wohnung ist, allen Feminismusdebatten zum Trotz, meist die Frau zuständig. Dieser Sänger aus Berlin-Friedenau ist eine Ausnahme. Nickel: „Der Bewohner sagte mir, diese Wohnung sei sein Rückzugsort, sein ‚Wundernest‘. Hier fügten sich Vergangenheit und Zukunft. An diesem runden Tisch habe er schon als Kind gesessen und auch sein Vater saß schon als Kind an diesem Tisch. ‚Ich wünschte, der Tischler, der ihn gebaut hat, wüsste das‘, sagte mir der Sänger.“

© Lars Nickel
Foto: Lars Nickel

Über Lars Nickel:
Die Fotos von Lars Nickel wurden erstmals 2015 in New York im „Deutschen Haus“ und in diesem
Jahr im „Märkischen Museum“ in Berlin (Stadtmuseum) gezeigt. Sie liegen auch als opulenter Bildband „Beletage“ (Edition Braus) vor. Für Character nahm Nickel noch mal Kontakt zu den Porträtierten auf und fotografierte sie rund zehn Jahre nach dem ersten Shooting.

Dieser Artikel ist zuerst in Character erschienen, dem Gesellschaftsmagazin der Bethmann Bank. Weitere Informationen zur aktuelen Ausgabe finden Sie auf unserer Webseite.

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