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„Die Dimension Zukunft gehört ins Grundgesetz“

Text von Jasmin Oberdorfer
17.07.2024
Gesellschaft

Was junge Menschen politisch bewegt, wird zu wenig gehört, meint Claudia Langer von der Generationen Stiftung. Im Interview berichtet sie von der Lobbyarbeit für die Interessen der jungen und kommenden Generationen. 

Frau Langer, Ihre Stiftung hat sich jüngst um die Urlaubslektüre von Bundeskanzler Olaf Scholz gekümmert. Wie lautete Ihre Buchempfehlung?

Claudia Langer: Anfang Juli haben Olaf Scholz und sechs seiner Minister von uns einen Brandbrief erhalten. Darin werfen wir der Ampelregierung vor, auf ganzer Linie zu versagen. Wir fordern die Politiker auf, aus ihrem Elfenbeinturm herabzusteigen. Wir brauchen Volksvertreter, die die Richtung vorgeben. Jedes Unternehmen entwickelt Strategien mit Blick darauf, wie sich aktuelle Entscheidungen in zehn Jahren auf das Geschäft auswirken. Aber die Politik scheint sich die Frage „Wo wollen wir hin?“ nicht zu stellen. Deshalb haben wir unserem Brandbrief unser Buch „Ihr habt keinen Plan, darum machen wir einen“ als Ferienlektüre beigelegt. Es ist ein politisches Manifest aus Sicht junger Menschen, mit dem wir auf Platz drei der Spiegel-Bestsellerliste waren.

Verkehrsminister Volker Wissing werfen Sie in dem Brief vor, er habe „die Mobilitätswende verpatzt“. Das habe aber erst dann kritische Folgen, wenn er sein „Ministerruhegeld“ genießt. Liegt hier der Kern des Problems?

Ganz genau! Diejenigen, die jetzt die Entscheidungen treffen, sind von deren Auswirkungen selbst gar nicht mehr betroffen. Unsere Infrastruktur wird täglich maroder, was irgendwann die wirtschaftliche Produktivität lähmen wird. Und die Verantwortlichen wälzen die Probleme auf die nächste Generation ab. Das ist nicht gerecht.

Was ist mit dem Begriff Generationengerechtigkeit überhaupt gemeint?

Generationengerechtigkeit bedeutet, dass wir uns bei jeder Entscheidung fragen sollten: Beeinflusst meine Handlung die Zukunft meiner Kinder und Enkel positiv oder negativ? Wir haben nicht das Recht, mit unseren Entscheidungen das Leben der kommenden Generationen zu beschränken. Das tun wir aber im Moment. Wir stellen Rechnungen aus, die die nachfolgenden Generationen bezahlen müssen. 

 

Wer stößt sich heute noch an der Gurtpflicht oder dem Rauchverbot? Früher gab es offenbar eine größere Bereitschaft, für ein gemeinsames Ziel auf Dinge zu verzichten.
Claudia Langer, Generationen Stiftung

Welche Kernforderungen hat die Stiftung?

Wir stellen zehn Forderungen an die älteren Generationen, darunter die Einhaltung von Klimaschutzzielen, ein gerechtes Bildungssystem, die Bekämpfung von Kinderarmut und eine zukunftsfähige Altersversorgung. Im Gegensatz zu den meisten anderen Nichtregierungsorganisationen, die sich entweder auf Umwelt oder Soziales konzentrieren, sind wir nicht monothematisch aufgestellt. 

Stichwort Klimawandel – was erwartet die junge Generation von der Politik?

Die Politik muss ihre Furcht davor ablegen, der Bevölkerung und der Wirtschaft mit Klimaschutzmaßnahmen zu viel zuzumuten. Wer stößt sich heute noch an der Gurtpflicht oder dem Rauchverbot? Früher gab es offenbar eine größere Bereitschaft, für ein gemeinsames Ziel auf Dinge zu verzichten. Wir brauchen wieder ein verbindendes Narrativ. Viele Firmen wünschen sich strengere Regeln – zum Beispiel bei den CO2-Grenzwerten. Aber sie wollen gleiche Bedingungen für alle. Klimabewussten Unternehmen dürfen keine Wettbewerbsnachteile entstehen. Und klimaschädlichen Unternehmen keine Vorteile. Laut Umweltbundesamt geben wir aber jährlich 65 Milliarden Euro für klimaschädliche Subventionen aus. Das muss aufhören.

Ein weiteres drängendes Thema ist die zunehmende Verschuldung. Wie sähe eine generationengerechtere Finanzpolitik aus?

Im Moment ist jede Investition, die den Klimawandel eindämmt, generationengerecht. Auch wenn sie Schulden verursacht. Die Kosten zur Bewältigung des Klimawandels, die bei Nichthandeln auf die späteren Generationen zukommen, werden um ein Vielfaches höher sein. Wichtig wären auch Investitionen in die Bildung: Wir können genau berechnen, wie viele Kinder in zwei Jahren in den Kindergarten müssen oder in sechs Jahren in die Schule. Aber jedes Jahr fehlen Plätze und die Politik tut überrascht. Im Zeitalter von Fachkräftemangel sollte es sich eine Gesellschaft auch nicht leisten, jährlich tausende Kinder ohne Schulabschluss und damit ohne Zukunftschancen ins Sozialsystem zu entlassen. Das verschärft das Loch in der Rentenkasse. Ein weiterer Schritt in die richtige Richtung: Beamte müssen in die Rente einzahlen. Ebenso alle Politiker. Sie entscheiden über die gesetzliche Rente, obwohl sie selbst nicht in das System einzahlen. Das darf nicht sein und muss sich ändern.

Wir müssen die Frontenbildung überwinden, wieder debattieren lernen und Druck auf die Politik ausüben
Claudia Langer, Generationen Stiftung

Wie könnte Politik insgesamt generationengerechter werden?

Artikel 20a im Grundgesetz besagt, dass der Staat in Verantwortung für künftige Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere zu schützen hat. Das geht uns nicht weit genug. Die Politik muss sich bei jeder Entscheidung fragen: Werden künftige Generationen dadurch überproportional belastet? Die Dimension Zukunft gehört ins Grundgesetz. Eine entsprechende Änderung wäre ein mächtiges Instrument, um politische Beschlüsse zugunsten kommender Generationen zu beeinflussen. Politiker könnten sich bei Entscheidungen auf das Grundgesetz berufen und Verstöße gegen Generationengerechtigkeit wären einklagbar.

Eine weitere Forderung der Stiftung ist die Einführung des Verursacherprinzips. Was ist damit gemeint? 

Ein Beispiel aus meinem Alltag: In unserer Straße klemmen täglich Visitenkarten mit dem Hinweis „Ich kaufe Ihr Auto“ an den Autoscheiben. Sie fallen beim Losfahren auf den Boden und bleiben liegen. Nach dem Verursacherprinzip muss derjenige, der den Müll macht, ihn auch wegräumen oder für die Entsorgung zahlen. In diesem Fall also der Autohändler. Dasselbe sollte für Firmen gelten, die die Umwelt zerstören: Sie müssen für Schäden aufkommen. Wenn sich Wirtschaftsbosse mehr davor fürchten müssten, für ihre Taten zur Verantwortung gezogen zu werden, würden sie vielleicht andere Entscheidungen treffen. 

Was können wir alle im Alltag tun, um Generationen näher zusammenzubringen? 

Die wichtigste Bürgerpflicht ist, sich politisch zu engagieren und zu artikulieren. Wir müssen die Frontenbildung überwinden, wieder debattieren lernen und Druck auf die Politik ausüben. Um das zu erreichen, ist gerade jetzt die Zivilgesellschaft besonders wichtig.

Die Generationen Stiftung
Claudia Langer, ehemalige Inhaberin einer Werbeagentur sowie Gründerin der Nachhaltigkeitsplattform Utopia.de, rief 2017 die Generationen Stiftung gGmbH ins Leben. Die Organisation trägt das Thema Generationengerechtigkeit in die öffentliche Debatte. Ziel ist ein generationengerechtes System für alle – einschließlich der kommenden Generationen. 

In der Stiftung engagieren sich junge und alte Menschen, namhafte Wissenschaftler sowie Experten. Sie arbeiten gemeinsam an generationengerechten Lösungen und tragen diese in die Politik. Die Stiftung finanziert sich ausschließlich durch Spenden.

59 Prozent 
der 16- bis 25-Jährigen macht sich große oder extreme Sorgen über den Klimawandel. 
Quelle: University of Bath, Großbritannien 

67 Prozent
der 14- bis 24-Jährigen fühlen sich beim Thema Klimaschutz von der älteren Generation im Stich gelassen.
Quelle: Sinus-Institut, 2019 

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