Zum Seiteninhalt springen Zur Fußzeile springen

Gedankenkontrolle

Text von Jessica Braun
04.07.2022
Gesellschaft

Computer allein mit Gedanken steuern zu können klingt wie Science-Fiction. Die Forschung ist aber schon so weit. Computer-Hirn-Schnittstellen helfen, körperliche Beeinträchtigungen zu überwinden. Ein Überblick über eine faszinierende Technologie.

Gegen die Medikamente war er resistent. Eine Operation, bei der Teile seines Gehirns voneinander getrennt wurden, brachte keine Besserung. Mehrmals täglich schüttelten epileptische Anfälle Martin Herwigs Körper. 2020 beschloss er deshalb, sich Elektroden unter die Kopfhaut implantieren zu lassen. Mit einer solchen Gehirn-Computer-Schnittstelle, so seine Hoffnung, würde er etwas Kontrolle über seinen Körper zurückbekommen. Seit seiner Kindheit leidet Herwig (Name von der Redaktion geändert) an Epilepsie: Früher waren es kurze Episoden, während derer sich sein linker Arm versteifte und zuckte. Mit zunehmendem Alter wurden es jedoch mehr und sie breiteten sich aus. Er musste einen Sturzhelm tragen, seine beruflichen Wünsche der Krankheit unterordnen. Als ihm seine Ärztin vorschlug, an einer Studie zur Erprobung eines neuartigen Verfahrens teilzunehmen, sagte Herwig zu. Das Gehirn gilt als das komplizierteste der menschlichen Organe. Noch immer können Forschende nicht vollständig erklären, wie es funktioniert. Die Zahl der Menschen, die sich freiwillig einer neuartigen Gehirnoperation unterziehen, ist entsprechend klein. Gehirn-Computer-Schnittstellen versprechen jedoch Heilung, wo bislang keine möglich war. Die auf Englisch brain-computer interfaces(BCI) genannten Systeme ermöglichen die Kommunikation zwischen dem Gehirn und einem Apparat beziehungsweise einem Computer. Wie auch andere Organe produziert das Gehirn elektrische Signale. Mit Elektroden lassen sich diese von den Nervenzellen erzeugten Ströme erfassen. Das BCI analysiert sie und setzt sie in bestimmte Befehle um, beispielsweise, um einen Roboterarm zu steuern.

Bewegungen denken

Erprobt wurden solche Schnittstellen erstmals in den 1970er-Jahren in Kalifornien mit Experimenten an Affen. Seitdem hat sich die Bandbreite dessen, was BCIs leisten können, enorm erweitert. Die Wissenschaft unterscheidet dabei verschiedene Arten von Schnittstellen: Passive messen Gehirnaktivitäten und ordnen sie ein, signalisieren also zum Beispiel, dass ein Mensch gestresst ist oder den Arm heben will. Über aktive Schnittstellen lassen sich solche Signale auch in Aktionen übersetzen, beispielsweise, um eine Prothese zu bewegen. Die Schnittstelle muss dafür erkennen,welcheAktivitäteinMenschgerade „denkt“. Weil die zugrundeliegenden neuronalen Muster bei jedem Menschen anders sind, hilft dabei eine künstliche Intelligenz (KI). Sie lernt, welche Signale von welchen Neuronen bestimmte Bewegungen anzeigen. In den vergangenen Jahren sind KI-Systeme deutlich leistungsfähiger geworden. Die Entwicklung von BCIs hat dies entscheidend vorangebracht.

Im Jahr 2012 gelang es einer durch einen Schlaganfall gelähmten Patientin, mithilfe eines BCI-gesteuerten Roboterarms erstmals seit 14 Jahren selbstständig zu trinken. Vier Jahre später gaben Forschende dem gelähmten Nathan Copeland nicht nur etwas Bewegungsfähigkeit, sondern auch ein gewisses Empfindungsvermögen zurück. Das Foto, wie der junge Mann

mit seinem künstlichen Arm den damaligen US-Präsidenten Barack Obama 2016 per Fistbump begrüßte, ging um die Welt. Allein im vergangenen Jahr erschienen mehrere aufsehenerregende Berichte, darunter der über einen Schlaganfallpatienten, dessen Sprachprothese die von ihm gedachten Wörter nahezu in Echtzeit aus den Hirnströmen ausliest.

Schrittmacher fürs Gehirn

Die Elektrodenmatte, die dem Epilepsiepatienten Martin Herwig eingesetzt wurde, zählt zu einer dritten Sparte, den stimulierenden Schnittstellen: Sie übersetzt keine Gedanken nach außen, sondern versetzt dem Gehirn elektrische Impulse. In einer dreistündigen OP öffnete ein Chirurg dafür Herwigs Kopfhaut und schraubte ein Elektrodennetz auf dem Schädelknochen fest. Dieses liegt nun über dem Areal, das die Anfälle auslöst. Von dort fädelte der Chirurg ein Kabel unter der Haut bis zum Schlüsselbein. Dort sitzt

ein streichholzschachtelgroßes Kästchen unter der Brustmuskulatur. Spürt Herwig die typische Aura, die einen Anfall ankündigt, löst er über diesen Stimulator einen Stromstoß aus. „Damit kann ich den Anfall ganz unterdrücken oder zumindest stark abschwächen“, sagt Herwig. Bei anderen neurologischen Erkrankungen erweisen sich solche „Gehirn-Schrittmacher“ ebenfalls als vielversprechend: Sie erleichtern Menschen mit Parkinson das Gehen und lindern schwere und bislang unheilbare Depressionen so weit, dass Betroffene wieder bereit sind, am Leben teilzunehmen.

Einer aktuellen Einschätzung der Beratungsfirma Market Research Future zufolge soll der weltweite Markt für BCIs jährlich um über 14 Prozent anwachsen.

2030 hätte er dann knapp 5,5 Milliarden US-Dollar erreicht. Davon profitieren Marktführer wie Blackrock Neurotech. Die von zwei Deutschen in Utah gegründete Firma stellte unter anderem die BCIs her, die es Nathan Copeland erlaubten, mit dem Präsidenten Hände zu schütteln. Aber es drängen auch Anbieter auf den Markt, die bisher wenig Interesse an medizinischen Anwendungen zeigten – oder kaum Reputation in Sachen Gehirnforschung mitbringen. So wie Elon Musk. Anfang 2021 präsentierte der Tesla-Gründer als Anwendungsbeispiel für die von seinem Start-up Neuralink entwickelte BCI-Technologie ein Video, in dem ein Affe per Hirnsignal das Computerspiel Pong spielt. Medienwirksam – bisher aber ohne Beweis, dass Neuralink wirklich über diese Technik verfügt. Facebook musste bereits einräumen, dass Gehirn-Computer-Schnittstellen eine größere technische Herausforderung darstellen als soziale Netzwerke.

2017 hatte das Unternehmen bekannt gegeben, seine Innovationsabteilung Building 8 entwickle ein BCI, mit dem sich Worte ohne Tippen direkt in einen Computer „hineindenken“ ließen. Vier Jahre später distanzierte sich Facebook vondiesemVorhaben: Man habe kein Interesse daran, Systeme zu entwickeln, bei denen Elektroden implantiert werden müssten.

Der Gedanke an Pizza könnte genügen

Genau darin liegt eine der zentralen Herausforderungen: BCIs, die Gehirnströme von außen, also auf dem Schädel sitzend, messen, geben nur ein unspezifisches Bild der Hirnaktivität wieder. Allerdings forscht die Wissenschaft auch an optischen Lösungen, die die bisher meist elektromagnetischen Messmethoden ersetzen könnten. Mittels Infrarotstrahlen wollen die Forscher von außen tiefer in das Gehirn hineinschauen und die Prozesse dort mithilfe kleinster Veränderungen erfassen. Diese Technologie steht allerdings noch ganz am Anfang.

Um bessere Ergebnisse zu erzielen, muss wie bei Martin Herwig die Kopfhaut oder, wie im Fall von Nathan Copeland, sogar der Schädel geöffnet werden. Das birgt Risiken: Hirnblutungen oder Folgeschäden wie Lähmungen oder Sprachstörungen. Für die meisten Computernutzer wäre so ein Eingriff bislang also keine Option – auch wenn das Tippen mit den Fingern noch so sehr nervt. Kleinste Verschiebungen der Elektroden oder zu starke Signale könnten zudem das Gewebe verletzen, zu Entzündungen oder Narbenbildung führen. Manchmal versagt auch ganz einfach die Technik: Das BCI des Epileptikers Herwig musste bereits einmal ausgetauscht werden, weil das erste nach einem Sturz nicht mehr wie gewünscht funktionierte. Dazu kommen Zukunftssorgen, wie Hackerangriffe auf Implantate, oder ethische Aspekte: Wenn ich mein Gehirn mit Technik manipuliere, bin ich dann noch ich?

In die Zukunft gedacht

Noch hat die Forschung also einige Grenzen der Technologie zu überwinden. Doch das Interesse an dieser ist groß.
Die Budgets sind es auch. Und das Netz ist voll von (potenziellen) Anwendungsbeispielen: non-invasive Schnittstellen, die Ausflüge in virtuelle, sich der eigenen Stimmung anpassende Welten ermöglichen; Pizza bestellen per Gedankenbefehl; Smartphones, die ihre Besitzerinnen oder Besitzer – ganz ohne Passwort! – an deren individuellen Hirnströmen erkennen; Astronauten, die mit Roboterarmen Reparaturen durchführen, ohne das Raumschiff zu verlassen; das endgültige Verschmelzen von Mensch und Computer – die nächste Evolutionsstufe.

Für Martin Herwig bedeutet das BCI vor allem eins: mehr Freiheit. Vor Kurzem ist er ohne Angst auf eine Leiter gestiegen, um ein Spielhaus für seine Tochter aufzubauen. „Das hätte ich mich früher nicht getraut“, sagt er.

Dieser Artikel ist zuerst in Character erschienen, dem Gesellschaftsmagazin der Bethmann Bank. Auf unserer Webseite finden Sie mehr Informationen zur aktuellen Ausgabe.

Ähnliche Artikel