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„Geschlechtsspezifische Gewalt findet in Deutschland viel zu wenig Beachtung“

Text von Jasmin Oberdorfer
30.01.2025
Gesellschaft

Frauenrechte und Schutz vor Gewalt sind eng miteinander verknüpft. Warum Deutschland trotz bestehender Gesetze weiterhin Verbesserungsbedarf hat, erklären die beiden Juristinnen Sibylla Flügge und Zümrüt Turan-Schnieders.

Mütter haben nach der Geburt ihres Kindes eine gesetzliche Schutzfrist von acht Wochen. Bei Fehlgeburten vor der 24. Woche galt diese Regelung bislang nicht. Nun ist eine Gesetzesänderung mit gestaffelten Schutzfristen beschlossen worden. Erste Debatten dazu gab es bereits 2015. Warum dauert das so lange?

Sibylla Flügge: Zehn Jahre sind in Hinblick auf Frauenrechte eine sehr kurze Zeit. In der Regel dauert es noch deutlich länger, bis Forderungen, die Frauen betreffen, im Bundestag Gehör finden. Dass dieses Thema noch vor der Bundestagswahl 2025 auf den Tisch kam, ist kein Zufall. Es wirkt so, als ob den Parteien immer vor wichtigen Wahlen einfällt, dass es viele weibliche Wählerinnen gibt, denen man vielleicht entgegenkommen sollte.

Zümrüt Turan-Schnieders (links), Sibylla Flügge (rechts)

Wo ist der Handlungsbedarf hierzulande besonders groß?

Flügge: Bei der Entlohnung. Frauen verdienen nach wie vor weniger als Männer. Besonders prekär ist die Situation in sozialen Berufen wie der Pflege, in der überwiegend Frauen arbeiten. 
Zümrüt Turan-Schnieders Ein weiteres Problem ist geschlechtsspezifische Gewalt. Sie findet in Deutschland viel zu wenig Beachtung. Das zeigt auch die ungesicherte Finanzierung der Frauenhäuser. Es fehlt bis heute ein verbindlicher Rechtsanspruch auf Schutzräume. Hier bleiben wir hinter den Verpflichtungen der Istanbul-Konvention zurück. Dieser Vertrag zum Schutz von Frauen vor Gewalt ist in Deutschland seit 2018 in Kraft und verpflichtet die unterzeichnenden Staaten unter anderem dazu, ausreichend Schutzunterkünfte bereitzustellen. 

Ist die mangelhafte Umsetzung der Istanbul-Konvention ein deutsches Phänomen?

Flügge: Nein, Gewalt gegen Frauen wird in vielen Ländern nicht ausreichend ernst genommen. Es gibt zudem eine starke politische Bewegung von Männerrechtlern, die gezielt dafür sorgen, dass Frauen in sorge- und umgangsrechtlichen Verfahren die erlebte Gewalt nicht thematisieren dürfen. 

Wir müssen endlich aufhören, nur die Symptome zu behandeln. Ein wichtiger Schritt wäre es, bereits in Kindergärten und Schulen mehr darüber aufzuklären, dass Gewalt keine Lösung ist und dass Geschlechter gleichberechtigt sind.
Turan-Schnieders, Streit

Was hat das für Auswirkungen? 

Turan-Schnieders: Die Möglichkeit, eine alleinige elterliche Sorge oder ein Umgangsverbot durchzusetzen, ist gesetzlich stark eingeschränkt. Als Anwältin muss ich nachweisen, dass meine Mandantin Gewalt erfahren hat. Da die Taten nicht in der Öffentlichkeit stattfinden und die Täter oft gezielt auf den Kopf schlagen, fehlen allerdings Zeugen und sichtbare Spuren. Gerichte fordern auch selten einen Auszug aus dem Zentralregister an, der Informationen über frühere Verurteilungen des Täters liefern könnte. Obwohl von Gewalttätern häufig eine Wiederholungsgefahr ausgeht, höre ich in Verhandlungen immer wieder, man wolle nicht die Vergangenheit bewerten, sondern nach vorne schauen. 

Ein unbefriedigender Ansatz für die Opfer ...

Turan-Schnieders: Richtig. Frauen kehren aus Verzweiflung und Überforderung mit dem Rechtssystem sogar manchmal zu den Tätern zurück, weil der juristische Weg für sie noch belastender ist als die erlebte Gewalt.

Gibt es Schutzmaßnahmen aus anderen Ländern, die Deutschland übernehmen könnte?

Turan-Schnieders: In Spanien gibt es Fußfesseln für gewalttätige Ex-Partner, die mit einem Alarm gekoppelt sind. Nähert sich der Täter der betroffenen Frau, wird automatisch die Polizei informiert, die dann eingreifen kann. In Hessen gibt es bereits eine ähnliche Methode: Hier erhalten betroffene Frauen spezielle Uhren mit Notrufknopf, der bei Betätigung ihren Standort an die Polizei übermittelt. Das Problem bei beiden Maßnahmen: Bis die Beamten vor Ort sind, kann es bereits zu spät sein.

Was müsste man stattdessen tun?

Turan-Schnieders: Wir müssen endlich aufhören, nur die Symptome zu behandeln. Ein wichtiger Schritt wäre es, bereits in Kindergärten und Schulen mehr darüber aufzuklären, dass Gewalt keine Lösung ist und dass Geschlechter gleichberechtigt sind. Diese Sensibilisierung ist entscheidend, um Gewalt in der Zukunft zu verhindern. 

Flügge: Auch Polizei, Sozialarbeiter, Staatsanwälte und Richter benötigen mehr Schulungen. Viele wissen kaum etwas über Gewaltverhältnisse in Beziehungen. Lernen können wir zudem von Österreich: Dort werden Gespräche zwischen Tätern und Opfern vermittelt, die den Tätern helfen sollen, Einsicht in ihr Verhalten zu gewinnen und ihre Taten zu stoppen.

Was kann Deutschland tun, um Frauenrechte global stärker zu fördern?

Flügge: Deutschland muss sich im Zuge einer feministischen Außenpolitik dafür einsetzen, Geschlechtergerechtigkeit und die Stärkung von Frauenrechten weltweit zu fördern. Einseitige Entwicklungspolitik, wie sie in der Vergangenheit vorgekommen ist, gilt es zu vermeiden.

Frauen in Deutschland brauchen einen langen Atem.
Turan-Schnieders, Streit

Was meinen Sie damit?

Flügge: Früher wurde in Afrika beispielsweise eine Form der Landwirtschaft gefördert, die auf den Einsatz von Maschinen und auf großflächige Agrarbetriebe setzte. Dabei verdienten einige wenige Männer gut, während die Frauen, die zuvor mit kleinen, selbstbewirtschafteten Flächen für ihre Familien sorgten, ihr Land verloren. Diese Art der Entwicklungshilfe ist aus der Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit misslungen.

Sie engagieren sich im Verein Frauen streiten für Ihr Recht e. V., der seit 1983 die Rechtszeitschrift Streit publiziert. Haben sich die Streitthemen mit den Jahren verändert?

Flügge: Seit Beginn prägen Themen wie Gewalt gegen Frauen, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und die Selbstbestimmung von Frauen das Profil der Streit. Die Details ändern sich, aber die grundlegenden Probleme nicht. Und mit dem Rechtsruck gewinnen momentan Strömungen an Einfluss, die unsere Fortschritte untergraben. Sie treten oft harmlos auf, wenn Frauen beispielsweise fordern, wieder Hausfrau sein zu dürfen, oder im Kontext von Abtreibungen betonen, Leben schützen zu wollen. Tatsächlich jedoch fördern solche Narrative eine Rückabwicklung von Gleichberechtigung.

Wann konnten Sie zuletzt in Streit über Erfolge berichten?

Turan-Schnieders: Ein Beispiel ist ein Grundsatzurteil zur Lohngleichheit, das unserer Redaktionsmitglied Susette Jörk 2023 erstritten hat. Die Anwältin setzte sich – bis zur letzten Instanz – für eine Mandantin ein, die bei gleicher Arbeit und Qualifikation deutlich weniger verdiente als ihr männlicher Kollege. Dieses Urteil zeigt aber auch, wie es um die Rechte von Frauen in der Praxis steht: Trotz des Entgelttransparenzgesetzes musste die Mandantin alle Instanzen durchlaufen, um zu ihrem Recht zu kommen. Frauen in Deutschland brauchen einen langen Atem.

Was können wir alle im Alltag für die Gleichstellung von Frauen tun?

Turan-Schnieders: Eine Möglichkeit ist selbstverständlich, Initiativen wie Streit zu unterstützen. Wir finanzieren uns durch Abonnements, sind aber auch auf Spenden angewiesen. Darüber hinaus sollte jeder Einzelne politisch aktiv werden – sei es am Arbeitsplatz, indem man sich zum Beispiel für eine bessere Unterstützung von Elternzeit für sowohl Mütter als auch Väter einsetzt, oder im privaten Umfeld, indem man seine Wahrnehmung für geschlechtsspezifische Gewalt schärft.

 

Zu den Personen:
Sibylla Flügge setzt sich seit mehr als 40 Jahren für die Rechte von Frauen ein. Die Professorin im Ruhestand gründete 1983 mit anderen Juristinnen den Verein Frauen streiten für ihr Recht e. V., der einmal im Jahr die Feministischen Juristinnentage veranstaltet und die feministische Rechtszeitschrift Streit (www.streit-fem.de) herausgibt. Das Magazin befasst sich mit Frauenrechten und feministischen Perspektiven in Recht und Politik. Zümrüt Turan-Schnieders arbeitet als Rechtsanwältin in Hanau und ist eine der Redakteurinnen bei Streit.

938 Mädchen und Frauen
wurden 2023 in Deutschland Opfer von versuchten oder vollendeten Femiziden.
Quelle: Bundeskriminalamt  

18 Prozent 
weniger als Männer haben Frauen 2023 in Deutschland pro Stunde durchschnittlich verdient.
Quelle: Destatis 

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