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Ein Zuhause auf Zeit

Text von Lilian Schmitt
30.01.2024
Gesellschaft

Naturkatastrophen, Kriege oder Menschenrechtsverletzungen zwingen Millionen zum Verlassen ihrer Heimat. Viele von ihnen landen in Camps mit endlosen Reihen aus Zelten oder Containern, die wenig haltbar, geschweige denn komfortabel sind. Organisationen und Architekten suchen nach Alternativen.

Die Zahl der Vertriebenen steigt seit Jahren unablässig. Während 2021 weltweit rund 90 Millionen Menschen aus ihrer Heimat flüchteten, mussten 2023 schon etwa 110 Millionen Menschen ihre Häuser verlassen. Die Gründe für ihre Flucht sind vielfältig: Kriege, politische Konflikte und Verfolgung, Naturkatastrophen infolge des Klimawandels. Viele der nun Heimatlosen landen in Camps, die ihnen eigentlich nur temporär als Zufluchtsort dienen sollten – und bleiben oftmals Monate oder sogar Jahre, weil sie nirgendwo anders hin gehen dürfen oder können. Sie hausen unter Planen und Decken oder in rissigen Zelten. Schutz vor Kälte, Hitze, Niederschlag oder der Privatsphäre gibt es kaum bis gar nicht.

Leben im Leichtbauhaus

Schwere Erdbeben verwüsteten zum Beispiel im Februar 2023 die Regionen im Südosten der Türkei und im Norden Syriens. Die Naturkatastrophe zerstörte unzählige Häuser, mehr als drei Millionen verließen ihre Heimat. Viele von ihnen suchten in der ebenfalls zerstörten türkischen Stadt Hatay Zuflucht und kamen in selbstgebauten Zelten unter, die sie kaum vor dem eisigen Wind und den niedrigen Temperaturen schützten.

Nur wenige Wochen später sieht das Camp wie eine riesige Gartenhaussiedlung aus. Mehr als 300 Menschen leben hier nun in kleinen, einfachen Häuschen mit leichten, aber doch stabilen Kunststoffdächern und -wänden. Diese Hütten bieten wesentlich mehr Schutz und Rückzugsmöglichkeiten als die in Flüchtlingscamps sonst üblichen Zelte. 

Ganz im Ikea-Style kommt die Notunterkunft, die 17,5 Quadratmeter Wohnfläche bietet, flach verpackt in zwei Kartons vor Ort an.

Entwickelt wurden die Unterkünfte von der humanitären Non-Profit-Organisation Better Shelter aus Schweden und dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) mit Unterstützung der Ikea-Stiftung. Erstmals kam ein solches Shelter im Jahr 2015 in UNHCR-Camps in Europa zum Einsatz. Es soll eine Alternative zu den bisher genutzten Zelten darstellen, denn diese halten im Schnitt nur sechs Monate. Better Shelter hingegen verspricht, dass seine Leichtbauhäuschen mindestens drei Jahre bewohnbar sind. Kostenpunkt: jeweils 1.500 Euro pro Stück für die komplette Unterkunft mit Fundament, Dach und Wänden oder rund 400 Euro für ein einzelnes Gerüst.

Ein Zuhause aus dem Karton

Ganz im Ikea-Style kommt die Notunterkunft, die 17,5 Quadratmeter Wohnfläche bietet, flach verpackt in zwei Kartons vor Ort an. Darin befinden sich, neben dem Gerüst, wie üblich auch das notwendige Werkzeug und eine Aufbauanleitung. Ebenfalls ganz nach dem Ikea-Prinzip können nun vier Leute das Häuschen innerhalb einer knappen Stunde aufbauen. Dabei gibt es drei Varianten: Bei der ersten können Bewohner das gelieferte Gerüst mit Baumaterialien vor Ort, wie Lehm oder Bambus, verkleiden und so eigenständig Wände und Dächer bauen. Für Alternative zwei liefert Better Shelter eine Plane mit, die wie bei einem Zelt über das Gerüst gespannt werden kann. Die dritte Variante umfasst ein komplettes Häuschen: Better Shelter liefert in diesem Falle nicht nur das Gerüst, sondern auch eine verschließbare Tür, Wand- und Deckenverkleidungen, Lampen und Solarpaneele.

Alle drei Möglichkeiten können Familien mit nach Bedarf noch mit Baumaterialien ergänzen, die sie vor Ort erhalten, damit ihre Unterkunft etwas robuster und komfortabler wird. „Im Laufe der Jahre haben wir viele Erweiterungen und Verbesserungen gesehen, auf die wir selbst gar nicht gekommen wären“, sagt Märta Terne von Better Shelter. So haben Familien in Indien einen zweiten Raum gebaut, der die Küche beherbergte. 

Komfortablere Alternative

Die Kooperationspartner Better Shelter und Ikea sind nicht die einzigen, die nach Lösungen für Vertriebene suchen. Eine stabilere Alternative sieht zum Beispiel aus wie ein langes, graues Iglu. Das Dach besteht aus einer rollbaren Betonplatte – mit Wasser besprüht, wird sie innerhalb eines Tages fest und bildet sowohl Dach als auch Wände der Unterkunft. Eingangs- und Terrassenbereich sind verglast, auf dem Dach können die Bewohner Solarpaneele anbringen. Oberlichter erhellen den 27 Quadratmeter großen Innenraum, der Küche, Wohn- und Schlafraum zugleich ist. Ein Bad und eine Toilette verbergen sich hinter separaten Türen. Boden und Wände sind isoliert.

Essential Homes ist ein von Norman Foster entwickeltes Wohnraumkonzept, das Flüchtigen und vertriebenen Gemeinschaften qualitativ bessere Strukturen bieten soll.

Diese Unterkunft ist das Ergebnis des Projekts Essential Homes, einer Initiative des Schweizer Baustoffproduzenten Holcim und der Norman Foster Foundation (NFF), die vom gleichnamigen britischen Stararchitekten gegründet wurde. Auf Grundlage des Prototyps, den die Initiatoren im Sommer 2023 auf der Architekturbiennale in Venedig vorstellten, möchten sie künftig Unterkünfte entwickeln, die nicht nur Geflüchteten, sondern Jedermann als nachhaltiges und günstiges Heim zur Verfügung stehen. Rund 19.000 Euro kosten die verwendeten Materialien – im Gegenzug versprechen NFF und Holcim eine Lebensdauer von 20 Jahren.

Unterkunft aus Papierröhren

Die Ideen des japanischen Architekten Shigeru Ban wiederum sind speziell auf Erdbebengebiete, zu Beispiel Japan, die Türkei und Indien, zugeschnitten. Seine Unterkünfte sind im Prinzip wasserfeste Papierröhren, die innerhalb kurzer Zeit aufgebaut werden können. Mit Sandsäcken gefüllte Bierkästen bilden das Fundament. Die Wände bestehen aus Holzplatten, Papierrohrsäulen stützen das Dach. Das wiederum ist aus Papprohrrahmen und Sperrholzplatten gefertigt - es ist also stabil und leicht zugleich, was bei Nachbeben Menschenleben retten kann.

Einen anderen Weg, um Geflüchteten ein Dach über den Kopf zu bieten, geht die pakistanische Architektin Yasmeen Lari. Sie startete die weltweit größte Zero-Carbon-Selbstbau-Bewegung. In Trainings vor Ort und in ihrem Youtube-Kanal zeigt die 83-Jährige, wie selbst Laien flut- und erdbebensichere Häuser, beispielsweise aus Lehm, bauen können. Lari startete ihr Engagement 2005, als ein Erdbeben im Norden Pakistans die Häuser vieler Menschen zerstörte. Seitdem wird ihre Stiftung Heritage Foundation immer wieder aktiv. Zum Beispiel nach den schweren Überschwemmungen in Pakistan 2022, durch die rund 33 Millionen Menschen ihr Zuhause verlassen mussten und mehr als 500.000 Häuser beschädigt beziehungsweise komplett zerstört wurden. Lari arbeitet seitdem an ihrem Ziel, den Bau von einer Million Selbstbau-Häuser zu begleiten.

1,2 Milliarden 
Menschen könnten bis 2025 aufgrund der Folgen des Klimawandels aus ihren Häusern vertrieben werden.
Quelle: Institut für Wirtschaft und Frieden

71 Tage 
halten sich Geflüchtet durchschnittlich im griechischen Camp Moria auf. 
Quelle: BMC Public Health

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