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„Es gibt nichts schönzureden“

Text von Sarah Sommer
21.07.2022
Gesellschaft

Eine Million Tier- und Pflanzenarten sind akut vom Aussterben bedroht. Welche Auswirkungen dieser dramatische Verlust an Biodiversität haben wird, lässt sich noch kaum abschätzen, sagt Klement Tockner, Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung. Klar ist: Wir gefährden unsere eigenen Lebensgrundlagen und auch den Klimaschutz, wenn wir die Vielfalt der Arten nicht bewahren.

Te:nor: Herr Tockner, wenn der Weltklimarat tagt und seine Berichte veröffentlicht, lesen wir darüber in allen großen Medien. Als sich im Juli der Weltbiodiversitätsrat in Bonn traf und in seinen aktuellen Berichten darauf hinwies, dass sich der Verlust der Artenvielfalt dramatisch beschleunigt, war das in der öffentlichen Wahrnehmung hingegen eher eine Randnotiz. Wie kommt das?

Klement Tockner: Die Biodiversitätskrise geht subtiler vonstatten als die Klimakrise: Während Hitzewellen oder Hochwasser als dramatische Ereignisse im kollektiven Gedächtnis bleiben, scheint der Verlust einzelner Pflanzen- und Tierarten für viele Menschen eher ein abstraktes Problem zu bleiben. Ich habe aber den Eindruck, dass gerade jetzt, wo die Klimakrise in ihren Auswirkungen so deutlich spürbar wird, auch das Verständnis für die größeren Zusammenhänge wächst: Der Klimawandel und der Verlust der Biodiversität sind miteinander gekoppelt, es ist eine Zwillingskrise.

Wie zeigt sich das?

Biodiversität ist erst einmal ein Wert an sich: Es geht um die Vielfalt der Arten, der Genvarianten und der Ökosysteme. Kurz: um die Vielfalt des Lebens, die in mehr als drei Milliarden Jahren natürlicher Evolution entstanden ist, und die unser aller Lebensgrundlage bildet; unser Naturkapital. Dieses Kapital brauchen wir jetzt, wenn es um die Bekämpfung der Klimakrise und ihrer Folgen geht. Gesunde, vielfältige Ökosysteme wie Mischwälder und Moore speichern Treibhausgase. Und in einem natürlichen, wilden Flusslauf finden sich nicht nur tausende Pflanzen- und Tierarten, er hilft auch, Schäden durch Extremwetterereignissen wie Dürren oder Überschwemmungen zu vermeiden oder die Regeneration zu unterstützen. Je mehr Biodiversität verloren geht, desto mehr Wissen verlieren wir auch über innovative Lösungsansätze, die die Natur bietet.

Ohne Artenschutz also kein Klimaschutz?

So ist es. Beide Krisen und auch die Ansätze, wie man sie bewältigen kann, wirken zusammen. Wir verlieren gerade bis zu einer Million von insgesamt acht Millionen Arten – und wir wissen noch nicht einmal ansatzweise, welche Folgen und Wechselwirkungen das haben wird. Insekten werden für die Bestäubung von Pflanzen fehlen. Wir verlieren Pflanzen und Organismen, die für sauberes Trinkwasser und gesunde Böden sorgen.

Das klingt bedrohlich…

Ja. Da gibt es nichts schönzureden. Unsere Existenz ist bedroht. Die Biodiversitätskrise ist in gewisser Weise eine noch größere Herausforderung als der Klimawandel, denn was einmal verloren ist, ist für immer verloren. Wir können nicht etwas, das in Millionen und Milliarden Jahren entstanden ist, einfach innerhalb weniger Jahre wieder herstellen. Wir können keine neuen Gletscher bauen, kein Moor komplett neu anlegen. Wir wissen heute schon kaum noch, wie ein natürlicher Flusslauf überhaupt aussieht.

Viele Menschen versuchen im Kleinen, etwas gegen den Verlust der Artenvielfalt zu tun: Sie stellen Insektenhäuser in den Garten, lassen Wiesen verwildern oder pflanzen selten gewordene Obstbäume. Hilft das?

Dieses Engagement zeigt, dass Bewusstsein und Wissen um den Wert der Artenvielfalt wachsen. Das finde ich sehr wichtig, und es ist auch eine wichtige Aufgabe unserer Forschungsmuseen, dieses Wissen erlebbar und begreifbar zu machen. Es macht mir aber auch Sorge, wenn das Thema Artenschutz auf die Ebene der Individuen geschoben wird. Natürlich kann man fragen: Was kann jeder und jede Einzelne selbst tun? Aber die Politik darf die Verantwortung für die Biodiversität nicht abschieben, das wäre tragisch und kurzsichtig. Das Problem lässt sich nur gesamtgesellschaftlich lösen, und daher ist die Politik in der Pflicht.

Was ist jetzt das Wichtigste, womit lässt sich der Verlust der Artenvielfalt am wirksamsten begrenzen?

Die Politik könnte in einem ersten Schritt die rund 67 Milliarden Euro an Subventionen, die derzeit in umweltschädliche Zwecke fließen, abschaffen beziehungsweise umwidmen. Dadurch würden Mittel frei, um zum Beispiel im großen Stil Flussläufe zu renaturieren, in Dekarbonisierung zu investieren, Moore zu vernässen, unsere Städte zu begrünen und die wenigen verbliebenen freifließenden Flüsse in Europa zu bewahren. Wir müssen Schutzgebiete ausweiten und klare, mutige Schutzkonzepte entwickeln.

Oft ist es allerdings so, dass Artenschützer ein eher problematisches Image als Verhinderer haben, zum Beispiel bei großen Bau- oder Infrastrukturprojekten…

Oh ja, das passiert natürlich. Dann heißt es zum Beispiel: Oh, nur weil da diese Vogelfamilie brütet, kann jetzt diese Autobahn oder jener Windpark nicht gebaut werden. Und dieses Anliegen wird dann in der öffentlichen Debatte häufig lächerlich gemacht. Über diese Art der Debatten ärgere ich mich. Denn sie simplifizieren ein komplexes Problem, und das finde ich polemisch, das ist einfach überhaupt nicht hilfreich.

Wie lassen sich solche Konflikte lösen?

Indem man sich die Dimension der Herausforderung klarmacht, die da auf uns zukommt. Wir müssen mutig, radikal und grundlegend neu denken, die Probleme systemisch angehen. Und dabei eher auf das große Ganze und auf Synergien schauen als auf Detailkonflikte. Ist es zum Beispiel sinnvoll, überhaupt noch über den Bau einer neuen Autobahn zu diskutieren, auch wenn darauf vielleicht bald nur noch Elektroautos fahren würden? Oder brauchen wir nicht vielmehr eine ganz neue, nachhaltige Art der Mobilität?

Können Sie nachvollziehen, dass die Komplexität all dieser Zusammenhänge in der Klima- und Biodiversitätskrise viele Menschen entmutigt?

Natürlich sind die Zusammenhänge komplex. Aber wir können es uns nicht leisten, uns deshalb auf simple Dafür- oder Dagegen-Argumente zurückzuziehen oder uns in Mutlosigkeit zu ergeben. Politik, Wissenschaft und Medien müssen den Menschen helfen, zu verstehen, was nötig und was möglich ist. Wir müssen permanent das Bewusstsein für diese Themen schärfen. Akute Krisen wie die Coronapandemie oder der Ukrainekrieg dürfen chronische Krisen wie Klimawandel und Biodiversitätsverlust nicht immer wieder von der Agenda verdrängen. Wir brauchen herausragendes Wissen, mehr politischen Mut und eine groß angelegte gesellschaftliche Veränderung, auch in Wirtschaft und im Finanzsektor.

Wo kann man denn gerade etwas bewegen, wenn man bei dieser Veränderung helfen möchte?

Es ist wichtig, sich politisch zu engagieren: in der eigenen Gemeinschaft, der eigenen Region, aber auch in größeren Zusammenhängen. Auch bei sogenannten Citizen-Science-Projekten gibt es einmalige Möglichkeiten, sich einzubringen: Das sind Bürger-Plattformen, bei denen jede und jeder an aktuellen Forschungsprojekten zum Beispiel zum Thema Biodiversität mitarbeiten und das eigene Wissen und Können einbringen kann.

Wer sich engagieren will, sollte also Projekte auswählen, die möglichst viele Menschen zusammenbringen?

Das Ziel muss in jedem Fall sein, dass wir als Gesellschaft verstehen: Wir können die Erde nicht weiter als Müllkippe und Ressourcenlager betrachten. Es geht der Menschheit in mancher Hinsicht zwar so gut wie nie zuvor, aber zugleich geht es der Natur so schlecht wie noch nie. Und dafür werden am Ende auch die Menschen einen hohen sozialen und ökonomischen Preis zahlen. Je länger wir zögern, desto höher wird dieser Preis ausfallen – für unsere Kinder und Enkelkinder.

Die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung

… forscht und informiert seit mehr als 200 Jahren zum Thema Biodiversität. In ihren sieben Forschungsinstituten finden sich die „Archive des Lebens“ mit mehr als 40 Millionen Objekten aus der heutigen und vergangenen Pflanzen- und Tierwelt. Senckenberg betreibt integrative „Geobiodiversitätsforschung“ mit dem Ziel, die Natur mit ihrer unendlichen Vielfalt zu verstehen, um sie als Lebensgrundlage für zukünftige Generationen zu erhalten und nachhaltig zu nutzen. Zudem werden Forschungsergebnisse auf vielfältige Art und Weise vermittelt, vor allem in den drei Naturmuseen in Frankfurt, Görlitz und Dresden. Die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung ist das größte Mitglied der von Bund und Ländern geförderten Leibniz-Gemeinschaft und hat ihren Hauptsitz in Frankfurt am Main.

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