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Urbane Oasen

Text von Dominic Fernandez
24.01.2022
Gesellschaft

Um die Verkehrswende voranzutreiben, geht die Stadt Barcelona einen radikalen Schritt. Sie sperrt ganze Stadtteile für den Auto-Durchgangsverkehr. In den sogenannten Superblocks gehören die Straßen nun vor allem Fußgängern und Fahrradfahrern.

Nicht nur Touristen lieben Barcelona. Auch Stadtplaner strömen in die katalanische Metropole und suchen Inspiration. Denn einige Stadtviertel in Barcelona erregen weltweit Aufsehen: Dort spielen Kinder auf bemaltem Asphalt stillgelegter Hauptstraßen. Ehemals verstopfte Kreuzungen haben sich in belebte Fußgängerzonen verwandelt – mit Picknickbänken, Straßenkunst und viel Grün. Dazwischen Menschen, die spazieren, Yoga praktizieren und sich unterhalten. Vereinzelte Autos tasten sich vorsichtig im Schritttempo voran. Es scheint, als hätte Barcelona die Dominanz des Autos im urbanen Raum beendet. Das ist zumindest in den bislang fünf sogenannten Superblocks gelungen – ein Projekt, das die Stadtverwaltung seit rund fünf Jahren Stück für Stück vorantreibt.

Hinter dem Superblock-Konzept steckt eine simple Idee. Die Stadt fasst mehrere Häuserblöcke zu einem Superblock zusammen. Weil ein Großteil des Stadtzentrums Barcelonas schachbrettmusterartig angelegt ist, entstehen kompakte Quadrate. Diese erklärte die Stadtverwaltung zu verkehrsberuhigten Zonen. Im Innenbereich eines Superblocks ist motorisierter Verkehr weitgehend verboten. Nur Anwohner und Lieferfahrzeuge dürfen hinein, solange sie sich an die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 10 km/h halten. Die wenigen verbliebenen Parkplätze sind den Anwohnern vorbehalten und zumeist unterirdisch. Priorität haben Fußgänger und Fahrradfahrer. Wer mit dem Auto durch die Stadt unterwegs ist, muss die urbanen Inseln umfahren.

Salvador Rueda ist geistiger Vater der Superblocks und Direktor der Agència d'Ecologia Urbana de Barcelona, eine öffentliche Einrichtung, die sich mit nachhaltiger Stadtentwicklung beschäftigt. Als er die Idee für die Superblocks hatte, stellte er sich soziale Oasen inmitten eines Dschungels aus Beton vor. Denn viele Menschen in Barcelona sind Verkehrslärm und Abgasen ausgesetzt, zudem gibt es in der Stadt nur wenige Grünflächen. Auf jeden Einwohner kommen nur rund 2,7 Quadratmeter Natur. Zum Vergleich: In London sind es 27 Quadratmeter. „Die neu entstehenden Räume sollen deshalb für öffentliche Parks, Veranstaltungen und Märkte genutzt werden“, erklärt Rueda in einem Interview mit dem Stadtmagazin MOMENT. Dies solle nicht nur den Mangel an Grünflächen beheben, sondern auch den Abgas-Ausstoß in den Superblocks drastisch verringern.

Ruedas Vision wäre wohl eine Kopfgeburt geblieben, hätten sich nicht Politiker dafür begeistert. Die Rückeroberung des urbanen Raums für Fußgänger begann mit einem politischen Umbruch. Im Jahr 2015 wählten die Bürger Barcelonas die einstige Umweltaktivistin Ada Colau zur Bürgermeisterin. An der Spitze eines linksliberalen Bündnisses verfolgt sie seither eine progressive Agenda. Unter dem Slogan „Omplim de vida els carrers“ (Lasst uns Straßen mit Leben füllen) startete Colau das Superblock-Programm. Private Autos waren in Barcelona nur für 20 Prozent der Mobilität verantwortlich, beanspruchten aber 60 Prozent des Straßenraums. Deshalb leitete die Bürgermeisterin eine radikale Wende ein. Zwei Jahre nach Amtsantritt weihte sie den ersten Superblock im einstigen Arbeiterviertel Poblenou ein – vier weitere Superblocks kamen seitdem dazu. Salvador Ruedas Modell sieht insgesamt 500 vor.

Seit der erste Superblock existiert, hat sich Poblenou stark gewandelt. Der für Menschen nutzbare öffentliche Raum hat sich verdoppelt. Über 300 neue Sitzbereiche im öffentlichen Raum stehen Anwohner und Besucher des Viertels nun zur Verfügung, während über 2000 Quadratmeter für Kinderspielplatze genutzt werden. Drastisch reduziert hat sich der motorisierte Verkehr im Viertel: Er ging um mehr als die Hälfte zurück – von über 2000 auf nicht einmal mehr 1000 Fahrzeuge pro Tag. Auf Fuß- und Fahrradwegen gelangen Anwohner auch ohne Auto zum Ziel. Der anfängliche Unmut mancher Bewohner des Viertels legte sich rasch. Als sie erlebten, wie die Nachbarschaft vor ihren Augen umgestaltet, verschönert und begrünt wurde, fiel den meisten der Abschied vom Autoverkehr vor der Haustür leicht. Es war eine wichtige Lektion für die Stadtplaner: „Inzwischen wissen wir, dass das Hauptproblem der Widerstand gegen Veränderung ist“, sagte Rueda im Interview mit der New York Times. Wird den Menschen etwas genommen, müssen sie sehen, was sie dafür bekommen.

Dass die Maßnahmen der Stadtverwaltung Früchte tragen, kann jeder Bürger anhand von Daten selbst nachvollziehen. Denn ökologische Nachhaltigkeit wird in Barcelona gemessen. Als eine führende Smart City setzt die Stadt auf technologische Innovation, um genau zu verfolgen, wo in der Stadt es Fortschritte oder Handlungsbedarf gibt. Zahlreiche Straßenlaternen an dicht befahrenen Verkehrsknotenpunkten verfügen über Sensoren. Rund um die Uhr zeichnen die Messgeräte Lärm und Luftverschmutzung auf. Diese Daten sind öffentlich zugänglich – sogar per Handy-App. Bürger wissen also ganz genau, wie viel Dezibel Verkehrslärm und welche Abgasmenge ihnen die Stadt an einem bestimmten Ort zumutet – und wie sich die Situation ändert, wenn der Autoverkehr beruhigt wird.

Dass eine Stadt nicht völlig ohne Autos auskommt, ist der Verwaltung klar. Werden motorisierte Fahrzeuge aus neuen Superblocks verbannt, sind zunächst umso mehr auf den restlichen Straßen unterwegs – das Problem wird verlagert. Deshalb funktioniert das Programm nur im Zusammenspiel mit einem Mobilitätsplan. Das übergeordnete Ziel lautet, langfristig den Gesamt-Autoverkehr in der Stadt zu reduzieren. Autofahrspuren verschwinden, während Fahrradwege, Busspuren und Gehwege mehr Platz einnehmen. Gut getaktete Bahnlinien sollen die Pendler aus dem Umland von den Hauptstraßen auf die Schiene locken. Im Rahmen seines Modells rechnete Rueda vor: Wenn Barcelona 500 Superblocks implementiert, würden 70 Prozent des öffentlichen Raums vom motorisierten Verkehr befreit. Das bedeutet 21 Prozent weniger Autos rund um die Blocks und eine geringere Autodichte in der gesamten Stadt.

Das Superblock-Modell hat sich so sehr bewährt, dass es inzwischen weltweit kopiert wird. Im Dezember 2021 präsentierte Deutschlands Hauptstadt den ersten sogenannten Kiezblock in Berlin-Mitte – das Konzept ist ähnlich wie das Barcelonas. Währenddessen denkt die Stadtverwaltung der katalanischen Metropole bereits in völlig anderen Maßstäben. Das neue Projekt namens Barcelona-Superblock erstreckt sich über 21 Straßen und sprengt damit die Größen-Dimensionen der Vorläufer-Superblocks um ein Vielfaches. Während bisherige Superblocks in Gebieten entstanden, die ohnehin vergleichsweise verkehrsarm waren, integriert die Stadt nun zentralere Bereiche mit hohem Verkehrsvolumen. Die Arbeiten an dem Großprojekt sollen noch im Jahr 2022 beginnen.  

500 Superblocks
will die Barcelona langfristig schaffen.
Quelle: 324cat

36 Millionen Euro
geplante Investitionen in den Ausbau von Fußgängerwegen und die Begrünung von Straßen im neuen Barcelona-Superblock.
Quelle: Stadt Barcelona

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