„Ich wünsche mir, dass wir in unserer aktuellen Arbeitswelt das Konstrukt Macht überdenken.“
Während manche noch überlegen, ob eine Führungsposition mit einem Mann oder einer Frau besetzt werden soll, stellt Naomi Ryland die aktuellen Unternehmensstrukturen gänzlich in Frage. Die Unternehmerin und Autorin skizziert eine Arbeitswelt, in der jeder sein Glück finden kann.
Frau Ryland, wie definieren Sie eine ideale Arbeitswelt?
Naomi Ryland: In einer idealen Arbeitswelt hat jeder von uns von Anfang an die Möglichkeit, das zu tun, was er oder sie gut und gerne macht – und zwar selbstbestimmt und auf gesunde Art und Weise.
Ist das aktuell auch so?
Auf keinen Fall. Die Fehlentwicklung beginnt schon in unserer Kindheit: Das Schulsystem setzt uns alle auf einen ganz bestimmten Pfad, der uns häufig die Möglichkeit nimmt, zu erkennen, was für Stärken und Schwächen wir haben. Das fängt bei Frontalunterricht an und geht weiter bei Tests, die Schülerinnen und Schüler alle zum gleichen Zeitpunkt schreiben müssen. So landen viele später in Jobs, in denen sie nicht glücklich sind und in denen sie sich nicht entfalten können. Dabei zeigen einige progressive Schulen bereits, dass es möglich ist, individuell und vor allem stärkenorientiert zu fördern.
Und dieses Problem trifft auch auf die Arbeitswelt zu?
Ja, ich denke zum Beispiel, dass wir nicht alle zwingend eine Führungskraft brauchen. Ich bin davon überzeugt, dass es andere Möglichkeiten gibt, uns als Gemeinschaften oder Teams zu organisieren. Wir müssen nur wieder lernen, wie das geht.
Haben Sie selbst als Führungskraft auch einmal gemerkt, dass etwas grundlegend falsch läuft?
Ja, sicher. Als Mitarbeitende hat man konkrete Vorstellungen davon, wie man als Chefin sein möchte. Wenn man dann aber erst einmal in der Position ist, hat man plötzlich das Gefühl, man muss alles nach den üblichen, eingefahrenen Regeln machen. Letztendlich ist man dann vielleicht sogar eine strengere Vorgesetzte, als man sie sich selbst gewünscht hätte.
Als Chefin sind sie auch Vorbild …
… ja, genau. Und das muss man sich immer wieder klar machen. Es bedeutet, wenn ich über meine eigenen Grenzen gehe – psychisch und physisch –, dann denken Mitarbeitende häufig, dass sie das auch so machen müssen. Dabei gehen gerade die jüngeren Mitarbeitenden mit einem ganz anderen Verständnis von dem, was sie aus ihrem Leben machen möchten, an ihre Arbeit heran. Da gibt es nicht mehr dieses Gefühl von Aufopferung, sondern das Bedürfnis, etwas Erfüllendes zu tun oder etwas zu bewirken und nebenher Zeit für andere Dinge zu haben
Was kann jeder einzelne von uns tun, um dieser idealen Arbeitswelt ein Stück näher zu kommen?
Der erste Schritt ist die Erkenntnis: Wir müssen begreifen, in welchem System wir leben und arbeiten. Im zweiten Schritt können wir dann Ungerechtigkeiten aufdecken. Denn es geht nicht so sehr um die Frage: Sollten statt Männer mehr Frauen in Machtpositionen in Unternehmen sein? Wir leben insgesamt in einem System der Unterdrückung. Das betrifft neben Geschlecht auch ethnische Herkunft, Klasse, Behinderungen, LGBTQIA+ und viele andere Intersektionen. In jedem Bereich sind es dieselben Mechanismen, die dazu führen, dass bestimmte Gruppen diskriminiert werden. Es geht also vielmehr darum, Machtstrukturen als solche zu hinterfragen.
Was können zum Beispiel kleine und mittelständische Unternehmen konkret tun?
Einfach einmal Neues ausprobieren! In meinem Unternehmen tbd* haben wir zum Beispiel folgendes Experiment gemacht: Wir, die Geschäftsführerinnen, haben uns selbst abgeschafft und stattdessen eine selbstorganisierte Struktur etabliert. Das bedeutet, dass nicht mehr die Führungskräfte das letzte Wort haben. Stattdessen trifft jede Person bestimmte Entscheidungen innerhalb des eigenen Kompetenzbereiches selbst.
Hat es funktioniert?
Es ist ein ständiger Prozess. Meine ganz persönliche Erfahrung ist, dass sich viele Mitarbeitende endlich entfalten konnten. Indem sie die Möglichkeit hatten, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen, sind sie teilweise zu ganz anderen Menschen geworden. Das hat mich sehr berührt.
Haben Sie Verständnis für Männer in Machtpositionen, die Angst haben, Macht – zum Beispiel an Frauen – abzugeben?
Ja, das kann ich nachvollziehen. Viele Menschen – und vor allem Männer – identifizieren sich sehr stark über ihre Arbeit und dem damit verbundenen Status. Das liegt daran, dass Männer nach wie vor anders sozialisiert werden als Frauen. Das Klischee vom arbeitenden Mann, der das Geld nach Hause bringt, ist auch heute noch weitverbreitet. Frauen haben, was das angeht, ein bisschen mehr Spielraum. Wenn eine Frau aus der aktuellen Arbeitswelt ausbrechen will, ist das gesellschaftlich akzeptierter als beim Mann.
Mussten Sie schon mal Macht abgeben – und wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Beim ersten Mal fühlte ich mich ein bisschen verloren. Ich dachte immer, ich muss mehr Macht bekommen und die Karriereleiter noch höher steigen. Wenn man diesen Kreislauf aber verlässt, erlangt man die Freiheit zu fragen: Was will ich wirklich? Was kann ich? Was mag ich? Wer so vorgeht, weiß auch nach Ende seines Arbeitslebens, womit er seine restliche Lebenszeit sinnfüllend verbringen kann.
Zurück zum Thema Rollenerwartungen. Können wir vielleicht von der LGBTQIA+-Community lernen?
Sind Frauen anders? Sind Männer anders? Darum geht es nicht und in diesem Punkt können wir tatsächlich viel von der queeren Community lernen: Wie es für Menschen ist, aus diesem System auszubrechen und gezwungen zu sein, es zu hinterfragen. Nehmen wir die Frauenquote: Diese führt aktuell dazu, dass wir mehr privilegierte, weiße Frauen in Führungspositionen haben. Doch was ist mit muslimischen Frauen? Oder Frauen aus der Arbeiterklasse? Unser Einsatz für mehr Gerechtigkeit kann also nicht bei der Frage Mann versus Frau aufhören.
Auf welche Reaktionen stoßen Sie mit Ihren Einstellungen?
Stellen Sie sich vor, sie glauben fest, glücklich mit ihrer beruflichen Situation zu sein. Sie kennen es nicht anders oder haben zu wenig Zeit oder Kraft, um sich eine andere Arbeitswelt vorzustellen. Menschen, die so empfinden, mögen meine Einstellung und Ideen vielleicht nicht hören. Denn die Erkenntnis, dass ein gut geglaubtes System fehlerhaft ist, schmerzt anfangs. So ging es mir auch. In den meisten Fällen treffe ich aber auf offene Ohren und offene Herzen. Denn die meisten Menschen spüren eine tiefe Unzufriedenheit mit ihrer Arbeit und eine Sehnsucht nach etwas Neuem.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass wir in unserer aktuellen Arbeitswelt das Konstrukt Macht überdenken. Das Gefühl von Ohnmacht oder Machtlosigkeit ist immer schlecht und führt nie zu etwas Gutem – egal, wen es trifft. Ich bin davon überzeugt, dass wir über die menschliche Ebene viel bewegen können.
Zur Person
Naomi Ryland ist gebürtige Britin, lebt aber seit 2008 in Berlin. Sie ist Gründerin der Karriereplattform tbd* und Gründungsmitglied des Unlearn Business Lab Kollektivs. Als Autorin und Vortragsrednerin setzt sie sich für eine gerechte und ethische Arbeitswelt ein.
28,9 Prozent
der Führungskräfte im Jahr 2022 waren weiblich.
Quelle: Statistisches Bundesamt
15,8 Prozent
der mittelständischen Unternehmen werden von Frauen geführt.
Quelle: KfW-Mittelstandspanel 2024
Unser Nachhaltigkeitsnewsletter Be.Wirken
„Software is eating the world“ – Software verschlinge die Welt, so ein geflügeltes Wort der TechBranche. Alles werde nach und nach digital. Und tatsächlich sieht es überall danach aus, auch beim Thema Bezahlen. Doch ein Gegentrend lässt sich ausgerechnet bei der Fotografie erkennen.
Kleine Flugzeuge sind um ein Vielfaches klimaschädlicher als andere Verkehrsmittel. Während Umweltorganisationen daher ein Verbot fordern, setzen Politik und Luftfahrtverbände auf nachhaltige Technologien. Te:nor fasst den aktuellen Stand der Debatte zusammen.
Klimafreundlich, lebenswert, bezahlbar – im Südosten Hamburgs entsteht auf mehr als 100 Hektar ein neues Stadtviertel. Es ist das zweitgrößte Neubauprojekt der Hansestadt.
Das waren Zeiten: Schnell mal übers Wochenende für 9 Euro nach London oder Ibiza fliegen. Heute fragt jeder nach der CO2-Bilanz, Flugtickets sind fast unbezahlbar geworden. Und wir besinnen uns auf eine alte Tugend: Romantisches Reisen mit dem Nachtzug.