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„Ich zeige es allen, die mich in Schubladen stecken“

Text von Jasmin Oberdorfer
29.01.2025
Gesellschaft

Ob in der Bildung oder in der Arbeitswelt – der Weg zur Chancengleichheit ist noch lang. Ein Gespräch mit Tech-Managerin Annahita Esmailzadeh über Vorurteile, limitierende Glaubenssätze und die Doppelmoral beim Thema Bilingualität.

Als junge Frau mit internationalem Familienhintergrund und mit modebewusstem Auftreten bringen Sie Eigenschaften mit, die in der IT-Branche selten mit Führungskräften in Verbindung gebracht werden. Welche Reaktionen lösen Sie in Ihrem beruflichen Umfeld aus?

Annahita Esmailzadeh: Bei mir zeigt sich das klassische Phänomen der Intersektionalität, also dass sich unterschiedliche Diskriminierungsdimensionen bedingen und verstärken können. Die US-Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw verdeutlicht das, mit dem Bild einer Straßenkreuzung: Die eine Straße steht für Geschlecht, die andere für Race. Auf beiden Straßen können Unfälle im Sinne von Diskriminierung passieren. Wer aber in der Mitte der Kreuzung steht, hat ein höheres Risiko in einen Unfall verwickelt zu werden. Ich werde etwa nicht nur potenziell benachteiligt und unterschätzt, weil ich eine Frau bin, sondern auch, weil ich zugleich verhältnismäßig jung bin für eine Führungsposition in einem Konzern und darüber hinaus einen sichtbaren Migrationshintergrund habe. Ich nutze das als Antrieb: Ich zeige es allen, die mich in Schubladen stecken.

Was haben diese Schubladen für Auswirkungen auf die Arbeitswelt?

Deutschland steht vor einem immer gravierenderen Fachkräftemangel. Arbeitgeber, die qualifizierte Menschen aufgrund von Vorurteilen ausschließen, gefährden nicht nur die Innovationskraft ihres Unternehmens, sondern langfristig auch die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Wir müssen Diversität als Chance im Arbeitsmarkt und als essenziellen Faktor für Innovation begreifen. Studien zeigen, dass diverse Teams besonders kreativ und erfolgreich arbeiten und damit einen wirtschaftlichen Nutzen haben. Leider wird Diversität bislang oft nur im Kontext der Geschlechterdimension betrachtet. Ein paritätisch besetzter Vorstand ist jedoch keineswegs automatisch divers – insbesondere dann nicht, wenn alle Mitglieder denselben ethnischen und akademischen Hintergrund, die gleiche sexuelle Orientierung oder soziale Herkunft teilen.

Die Herausforderungen beginnen oft schon sehr früh: Kinder mit Migrationsbiografie haben nach wie vor nicht die gleichen Bildungschancen wie ihre Altersgenossen ohne internationale Familiengeschichte. 

Das stimmt zwar, aber Studien zeigen auch, dass soziale Herkunft bei der schulischen Entwicklung eine größere Rolle spielt als der Migrationshintergrund. Kinder aus Akademikerfamilien – auch mit Migrationshintergrund – haben bessere Chancen als Kinder aus nicht privilegierten Haushalten. 

Spricht man in einem Elternhaus etwa Französisch, Spanisch oder Italienisch, wird das gesellschaftlich positiv wahrgenommen. Wird aber Arabisch oder Türkisch gesprochen, führt das häufig zu negativen Bewertungen.

Was müsste getan werden, um Chancengleichheit im Bildungssystem herzustellen?

Defizite könnten durch Ganztagsangebote, gezielte Nachhilfe oder Ferienprogramme für Kinder ausgeglichen werden. Auch Angebote für die ganze Familie wären sinnvoll, damit die Eltern mehr soziale Kontakte knüpfen. Eine stärkere Förderung von digitalen Lernmöglichkeiten könnte ebenfalls dazu beitragen, Bildungsungleichheiten zu verringern und Schülerinnen und Schüler besser zu unterstützen. Darüber hinaus wäre es sinnvoll, Schulen mit mehr Ressourcen auszustatten, um individueller auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen zu können und mehr personalisierte Lernansätze zu ermöglichen. Auch eine stärkere Zusammenarbeit mit sozialen Einrichtungen und der Jugendhilfe könnte den Kindern und Familien in schwierigen Lebenslagen zusätzlich helfen. Es sollte außerdem mehr Augenmerk auf die Ausbildung von Lehrkräften in interkultureller Kompetenz gelegt werden, damit sie besser auf die Vielfalt der Schülerschaft eingehen und inklusiv unterrichten können. Und wir müssen aufhören, mit zweierlei Maß zu messen: Spricht man in einem Elternhaus etwa Französisch, Spanisch oder Italienisch, wird das gesellschaftlich positiv wahrgenommen. Wird aber Arabisch oder Türkisch gesprochen, führt das häufig zu negativen Bewertungen. Dabei ist Bilingualität immer ein Gewinn. Ich bin sehr dankbar, dass bei uns zu Hause Persisch gesprochen wurde und ich diese Sprache beherrsche, wenn auch mit lustigem deutschen Akzent.

Sie haben einen sehr guten Schul- und Universitätsabschluss gemacht. Was lief bei Ihnen besser?

Mein Vater war Taxifahrer und meine Mutter hat lange als Verkäuferin gearbeitet – ich habe also keine sozioökonomisch privilegierte Herkunft. Aber meine Eltern haben sehr viel Wert auf Bildung gelegt und mir immer das Gefühl gegeben, dass ich alles schaffen kann. Das erleben Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien oft anders. 

Beispielsweise Cem, von dem Sie in Ihrem Buch „Von Quoten-Frauen und alten weißen Männern“ schreiben.

Ganz genau. Als Studentin habe ich Nachhilfe für Kinder aus sozial benachteiligten Familien gegeben. Ein Junge, Cem, damals in der dritten Klasse, war völlig unkonzentriert und hat die ganze Klasse aufgewiegelt. Irgendwann habe ich ihn gefragt, was sein Plan sei, denn so würde er es nicht auf das Gymnasium schaffen. Seine Antwort: Als Ausländerkind schaffe ich das sowieso nicht. Selbst seine Eltern seien der Meinung, aus ihm werde nichts. Ich erzählte ihm, dass ich selbst aus einfachen Verhältnissen komme und trotzdem Wirtschaftsinformatik studiere. Er könne das auch schaffen. Ab diesem Moment änderte sich alles: Er war plötzlich hochmotiviert, saß immer vorne, forderte Ruhe ein und konzentrierte sich. Ein Jahr später wechselte er aufs Gymnasium. Dieses Erlebnis zeigt, wie sehr Kinder von dem geprägt werden, was ihnen über ihre Fähigkeiten gesagt wird – und wie wichtig es ist, ihnen Mut zuzusprechen. 

Es ist wichtig, schon früh zu verhindern, dass Stereotypen entstehen. Kindern wird durch Eltern und Lehrkräfte oft unbewusst vermittelt, dass Technik eher etwas für Jungs ist, während Mädchen oft als sprachlich oder künstlerisch begabt gelten.

Wenn Sie heute noch in der Schule arbeiten würden, wie würden Sie mehr junge Mädchen für Mint-Berufe begeistern?

Es ist wichtig, schon früh zu verhindern, dass Stereotypen entstehen. Kindern wird durch Eltern und Lehrkräfte oft unbewusst vermittelt, dass Technik eher etwas für Jungs ist, während Mädchen oft als sprachlich oder künstlerisch begabt gelten. Wir müssen Technik spannend und greifbar machen, etwa durch Projekte, bei denen Kinder Roboter programmieren können – das begeistert Mädchen und Jungs gleichermaßen. 

Und was raten Sie Frauen, die sich für ein männerdominiertes Berufsfeld entschieden haben?

Es ist wichtig, schnell Kompetenz und Fachwissen aufzubauen – das überzeugt die meisten Menschen. Und um mit denen umzugehen, die sich nicht überzeugen lassen, hilft es, sich Mentoren und Mentorinnen zu suchen, die unterstützen und Mut machen. Es ist oft hilfreicher, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, als zu versuchen, die Welt allein zu retten.


Zur Person
Annahita Esmailzadeh leitet bei Microsoft Deutschland den Bereich Customer Success Account Management für die Energie- und Chemiebranche. Auf LinkedIn hat die Wirtschaftsinformatikerin, Bestsellerautorin und Keynote-Speakerin mehr als 194.000 Follower und postet regelmäßig zu Themen wie Diversität und New Work. Zusätzlich engagiert sie sich als Mentorin in Organisationen wie Start-up Teens, Mentor Me Germany und der Digital Hub Initiative.

24,9 Millionen 
Menschen mit Migrationshintergrund lebten 2023 in Deutschland.
Quelle: Destatis 

22 Prozent
aller europäischen Tech-Jobs sind von Frauen besetzt.
Quelle: McKinsey 

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