Zum Seiteninhalt springen Zur Fußzeile springen

Frisches vom Dach

Text von Susanne Widrat
24.02.2022
Gesellschaft

Stadt und Landwirtschaft – passt das zusammen? Passt! Der Trend des Urban Farming ist ungebrochen. Experten wissen: Städtische Äcker können zwar den traditionellen Gemüseanbau nicht ersetzen, aber ergänzen.

Typisch Paris: enge Häuserschluchten, zugeparkte Straßen. Autos schlängeln sich um den L’ Arc de Triomphe. Auf den Gehwegen wimmelt es vor Menschen. Hoch oben, über den Dächern, ist von der Großstadthektik jedoch nichts mehr zu spüren. Auf dem Dach des Palais des Congrès ist es erholsam ruhig. Eine Oase inmitten der Metropole – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Auf 14.000 Quadratmetern gedeihen hier in einer der größten Rooftop-Farmen weltweit Obst, Gemüse und Kräuter. Bis zu einer Tonne frischer Lebensmittel soll der Innenstadt-Acker namens Nature Urbain (https://www.nu-paris.com/) in der Hochsaison täglich produzieren. „Wir wollen die Menschen im Südwesten der Stadt ernähren und dazu beitragen, die Lebensmittelmeilen zu reduzieren“, sagte Pascal Hardy von der Betreiberfirma Agripolis bei der Eröffnung im Frühjahr 2020 der britischen Zeitung The Guardian.

Ob Erdbeeren vom Dach des Oberhausener Jobcenters, Salat aus einem ehemaligen Londoner Luftschutzbunker oder selbst gezüchtete Kräuter aus dem Berliner Prinzessinnengarten: Kleine und große Urban-Farming-Projekte machen deutlich, dass Landwirtschaft in Städten weltweit Zukunftspotenzial hat. Bis zu fünf Prozent der gesamten Nahrungsmittelproduktion könnte künftig aus Städten kommen, lautet eine Einschätzung des Europäischen Parlaments.

Der Trend, ausgerechnet in Städten Landwirtschaft zu betreiben, startete in den 1970er-Jahren in New York unter dem Stichwort Urban Gardening. Dabei ging es den Beteiligten vor allem darum, in Gemeinschaftsarbeit mit Gleichgesinnten den täglichen Bedarf an frischen, gesunden Lebensmitteln zu decken und brachliegende Grundstücke sinnvoll zu nutzen. Die kommerzielle Variante, das Urban Farming, ist dagegen ein Kind des aktuellen Jahrtausends. Unternehmen investieren Millionenbeträge, um mithilfe innovativer Technologie möglichst viele Menschen zu versorgen – und um am Ende einen Gewinn einzufahren.

Urban Farming folgt einer unaufhaltsamen Entwicklung. Während im Jahr 2017 etwas mehr als die Hälfte der weltweit 7,4 Milliarden Menschen in Städten lebte, werden es 2050 wohl schon zwei Drittel sein. Allerdings wird die Weltbevölkerung bis dahin rund 9,7 Milliarden Menschen zählen, so die Prognose der United Nations Food and Agriculture Organization (UN FAO). Unter dem Strich werden also künftig mehr als sechs Milliarden Menschen in den urbanen Ballungszentren leben. Damit die landwirtschaftlichen Erzeugnisse nicht noch längere Transportwege zurücklegen, müssen die Produzenten umziehen. Am besten dahin, wo sich die Kunden befinden: in die Städte.

Da ist es kein Wunder, dass in den Metropolen riesige, teils mehrere Fußballfelder große Anbauflächen auf Dächern entstehen, sogenannte Rooftop-Farmen; oder dass in leerstehenden Gewerbeimmobilien Vertical Farms errichtet werden – riesige Gewächshäuser, in denen Pflanzen in Hochregalen auf mehreren Stockwerken übereinander gedeihen. Alternativ wächst das Grün auch schon mal in geschlossenen, kontrollierten Indoor-Farmen, in denen LED-Lichter die Sonne und Nährlösungen das Beet ersetzen. Alle Varianten haben eines gemeinsam: Sie nutzen das knappe Platzangebot in Städten effizient und liefern gleichzeitig frische Produkte auf die Tische der Bevölkerung.

Doch nicht nur die Transportwege können so verkürzt und Flächen optimal genutzt werden. Urban Farming trägt auch aus anderen Gründen zur nachhaltigen Lebensmittelproduktion bei:

  • Laut UN ist die Landwirtschaft für 70 Prozent des globalen Wasserverbrauchs verantwortlich. Dank geschlossener Kreisläufe, in denen das wertvolle Nass aufbereitet und wiederverwendet wird, reduziert sich der Wassereinsatz um bis zu 90 Prozent.
  • Der Einsatz von Dünger reduziert sich auf ein Minimum, weil er nicht mehr im Boden versickert. Nach Schätzungen von Wissenschaftlern lässt sich der Einsatz von Stickstoff beim Urban Farming weltweit um bis zu 170.000 Tonnen jährlich reduzieren.
  • Pestizide kommen beim Urban Farming oft gar nicht zum Einsatz. Viele Systeme befinden sich in geschlossenen Räumen, sodass Schädlinge keine Chance haben.
  • Die Produzenten können unabhängig vom Wetter und von der Jahreszeit ernten – vielerorts sogar mehrfach im Jahr.

Allerdings müssen die Anhänger des Urban Farming derzeit noch drei große Nachteile hinnehmen. Erstens eignen sich nicht alle Pflanzen für den Anbau in einer Nährlösung. Grundnahrungsmittel wie Mais, Weizen oder Reis wachsen einfach auf dem Acker besser. Somit bleibt lediglich leicht verderblichen Pflanzen, wie Kräutern oder Salat, der lange Transportweg zum Verbraucher erspart. Zweitens hinterlassen insbesondere die Indoor-Farmen einen sehr großen ökologischen Fußabdruck. Vor allem die innovativen Technologien, die die Erfolgsbasis des Urban Farmings bilden, sorgen für einen enormen Energieverbrauch – etwa die Klimatisierung, das Wasserrecycling, die automatische Kontrolle von Nährstoffgehalten und vor allem die LED-Beleuchtung, die die Sonne ersetzt. Drittens sind Urban-Farming-Projekte in der Regel mit hohen Investitionskosten verbunden. Die Initiatoren müssen geeignete Immobilien in den Ballungszentren anmieten oder sogar kaufen. Und auch die eingesetzte Technologie bindet viel Geld. Da kommt schnell ein Kapitalbedarf im Millionen-Euro-Bereich zusammen.

Unter dem Strich heißt das: Der Anbau frischer Lebensmittel in Städten ist nicht nur sinnvoll, weil so die Bevölkerung leichteren Zugang zu gesunder Nahrung erhält. Gelingt es den Betreibern der Urban Farms künftig, ihren Energiebedarf überwiegend aus regenerativen Quellen zu speisen, trägt die städtische Landwirtschaft auch erheblich zum Klimaschutz bei. „Urban Farming wird die traditionelle Agrarwirtschaft aber nicht komplett ersetzen“, ist sich Volkmar Keuter vom Fraunhofer-Institut UMSICHT sicher. „Immerhin gibt es in Asien bereits erste Farmen, die wirtschaftlich arbeiten“, sagt Keuter. „Die Marktpreise für Gemüse und Obst sind dort allerdings wesentlich höher als bei uns.“

20 Prozent
Voraussichtlicher Anstieg des Wasserverbrauchs in der traditionellen Landwirtschaft bis zum Jahr 2050
Quelle: Fraunhofer

2400 km
Entfernung, die Gemüse im Durchschnitt vom Feld bis zum Verbraucher zurücklegt
Quelle: Fraunhofer

Ähnliche Artikel