Zum Seiteninhalt springen Zur Fußzeile springen

Die Kraft des Ozeans

Text von Christoph Koch
28.04.2023
Unternehmen

Ines Schiller möchte mit ihrem Berliner Start-up Vyld Tampons aus Meeresalgen herstellen. Denn die schnell nachwachsenden Meeresorganismen seien ein idealer Rohstoff. Schiller sieht den Markt für Periodenprodukte reif für mehr Nachhaltigkeit.

Viele später erfolgreiche Firmen – von Amazon bis Harley Davidson – begannen ihre Arbeit in einer Garage. Warum sollte es also eine Hinterhofscheune in Berlin-Neukölln nicht auch tun? Und so sitzt Ines Schiller, während nebenan der Prosecco-Händler „Tante Frizzante“ seine Kisten packt, in dieser Scheune in einem sehr kleinen, sehr unbeheizten Büro und arbeitet an der Verbesserung der Welt. Die Idee des von ihr gegründeten Unternehmens Vyld: ein umweltfreundlicher Tampon aus Algenfasern.

Was erst einmal kurios klingt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als durchaus sinnvoll: Denn die Baumwolle, aus der fast alle Tampons bisher bestehen, trockne beim Aufsaugen die Schleimhäute aus, so Schiller. Beim „Tangpon“, wie sie ihr Algenprodukt mit einem Grinsen nennt, gebe es dieses Problem nicht. Denn die Algen verwandelten Flüssigkeit teilweise in ein Feuchtigkeit spendendes Gel. Zudem sind viele marktübliche Baumwolltampons nicht nur in eine Plastikhülle eingeschweißt. Auch das eigentliche Produkt ist mit einem Plastikvlies überzogen, um es glatter zu machen. Dies sei bei den aus Algen gewonnenen Fasern nicht nötig. „Abgesehen davon, dass Menstruierende oft, ohne es zu wissen, Plastik in ihren Körper aufnehmen, wären unsere Tangpons auch eine deutliche Verbesserung in Sachen Müll“, so Schiller.

Eine menstruierende Person verbraucht im Lauf ihres Lebens zwischen 10.000 und 17.000 Hygieneprodukte. Allein in der EU werden jährlich rund 49 Milliarden Tampons, Binden und Slipeinlagen benutzt. Ein gigantischer Müllberg, im deutschsprachigen Raum zwischen 75.000 und 125.000 Tonnen schwer. Diesen Berg aus meist langlebigem Baumwolle-Viskose-Plastik-Gemisch biologisch abbaubar zu gestalten ist eines der Ziele von Vyld. Zudem zersetzen sich Algen nicht nur unproblematisch, sie wachsen auch deutlich schneller nach als beispielsweise Baumwolle und haben eine bessere Ökobilanz. „Baumwolle verbraucht im Anbau Unmengen Wasser“, sagt Schiller. „Algen wachsen, auch ohne dass man sie gießt oder düngt, bis zu zehnmal schneller als Landpflanzen – manche Spezies wachsen bis zu 50 Zentimeter pro Tag.“

Zum Algenfan wurde die 36-Jährige, als sie sich vor fünf Jahren in Südafrika zum Field-and-Marine-Guide ausbilden ließ. „Da hatten wir eine beeindruckende Dozentin, die auch im medizinischen Bereich eine absolute Algenkoryphäe ist“, sagt Schiller. „Sie hat mich für diese Organismen begeistert und mir auch viele neue Zusammenhänge im Ökosystem des Ozeans nahegebracht.“ Vor dieser Ausbildung verbrachte Schiller ihre Zeit mit sehr unterschiedlichen Dingen. Nach einem Studium der Philosophie und Neurowissenschaften sowie an einer Filmhochschule arbeitete sie als Filmproduzentin und Drehbuchautorin an zwei Filmen mit, von denen einer („Love Steaks“) für den Deutschen Filmpreis nominiert wurde und verschiedene andere Auszeichnungen gewann. Mehrere Jahre engagierte sie sich beim Sozialprojekt „Mein Grundeinkommen“, das regelmäßig ein bedingungsloses Grundeinkommen für ein Jahr an verschiedene Menschen verlost. Auch die Start-up-Welt kennt Schiller bereits: Nach ihrer Zeit in Südafrika baute sie das Start-up Bluu Seafood mit auf, das sich auf im Bioreaktor künstlich gezüchteten Fisch spezialisiert hat.

„Die klassische Start-up-Logik, bei der Gründerinnen oder Gründer möglichst viel Risikokapital einsammeln, um dann um jeden Preis rapide zu wachsen und einen Markt zu dominieren, hat mich jedoch nicht begeistert“, erinnert sich Schiller an diese letzte Episode ihres abwechslungsreichen Lebenslaufs. Ihr Algen-Start-up hat sie deshalb nach einem nachhaltigeren Modell aufgebaut: Vyld wird im Verantwortungseigentum geführt. Vereinfacht gesagt, bedeutet dies, dass die Eigentümer nicht am Gewinn des Unternehmens beteiligt werden. Dadurch sollen sie verantwortungsvoll und im Sinn des Unternehmenszwecks handeln statt rein gewinnorientiert. Zuletzt machte das Outdoorbekleidungsunternehmen Patagonia Schlagzeilen, als es vom Gründer in Verantwortungseigentum umgewandelt wurde und damit nun gewissermaßen sich selbst gehört. Auch deutsche Firmen wie der Technologieriese Bosch oder das Berliner Umwelt-Start-up Ecosia haben sich für ähnliche Wege entschieden. Was für etablierte Firmen funktionieren kann, hat für Start-ups jedoch einen großen Nachteil: Wenn man Investoren nicht an Unternehmensgewinnen beteiligt, verlieren diese meist schnell das Interesse daran, ihren Geldbeutel überhaupt zu öffnen.

Schiller hat es trotzdem geschafft, einige Geldgeber vom Konzept des Tangpons zu überzeugen: „Mit Risikokapitalfirmen, die sich an unserem Modell des Verantwortungseigentums stören, brauchen wir gar nicht zu reden. Das spart beiden Seiten Zeit“, sagt Schiller selbstbewusst. „Zum Glück gibt es auch Business-Angels und Investorinnen, denen es nicht nur um schnelle Rendite geht.“ Mit dem Geld aus der ersten Finanzierungsrunde konnte Vyld erste Prototypen (noch mit einem Baumwollanteil von etwa 20 Prozent) testen. Für sie der Beweis, dass das Konzept grundsätzlich funktioniert. „Es war eine wilde Reise durch Europa, auf der wir verschiedene Partnerinnen und Partner gefunden haben, die uns bei den einzelnen Entwicklungsschritten helfen können“, sagt Schiller. Eine der größten Herausforderungen: Die Fasern aus Algenmaterial möglichst so zu gestalten, dass sie auch in den riesigen Maschinen verarbeitet werden können, die momentan herkömmliche Baumwolltampons herstellen. „Wir wollen ja nicht überall auf der Welt neue Tamponfabriken bauen“, erklärt Schiller, „sondern die Algenfasern so optimieren, dass wir die bestehenden Produktionsstätten nutzen können.“

Für die nächste Entwicklungsstufe, also den zu 100 Prozent aus Algen bestehenden Tangpon, hat Schiller eine Crowdfunding-Kampagne aufgesetzt, die im Oktober 2022 erfolgreich zu Ende ging. Crowdfunding ist eine relativ neue Finanzierungsform, bei der Interessierte über eine Onlineplattform Geld für die Entwicklung eines Produkts geben können. Kommt genug zusammen, wird das Projekt realisiert und alle, die mitfinanziert haben, bekommen einen vorher festgelegten Gegenwert – zum Beispiel ein Exemplar des finanzierten Produkts. „Crowdfunding ist für uns nicht nur ein Weg, Geld einzuwerben“, sagt Schiller. „Wir bauen damit auch eine Community auf, deren Feedback wir in die Entwicklung des Tangpons aufnehmen wollen.“ Neben einer großen Community im Netz schart Ines Schiller auch eine kleinere unmittelbar um sich: Mit Melanie Schichan und Guoda Trečiokaitė hat sie zwei Mitstreiterinnen gefunden, die die Gründerin im Tagesgeschäft unterstützen. Und mit einem Algenfarmer sowie einem Tamponfaser- Experten mit 25 Jahren Berufserfahrung baut Vyld ein Advisory-Board mit Fachkompetenz aus verschiedenen Bereichen auf.

Wenn alles klappt, könnte Ende 2023 die kommerzielle Produktion starten – „vorausgesetzt, unser Betatest, bei dem wir den Tangpon auf Industriemaschinen und unter Bedingungen für die Massenproduktion herstellen lassen, liefert gut ab“. Langfristig sei es auch denkbar, andere Periodenprodukte wie Einlagen und Binden aus Algen herzustellen. Um sich nicht zu verzetteln, wolle sich Vyld jedoch erst einmal auf den Tangpon konzentrieren. „Den heutigen Standard-Tampon hat vor rund 100 Jahren jemand fast exakt so erfunden, wie er heute ist“, sagt Schiller. „Und seitdem ist nichts passiert. Das kann doch nicht sein!“ Das scheinen auch die etablierten Hersteller so zu sehen. Der Marktführer mit den zwei Buchstaben habe Schiller zufolge jedenfalls schon Kontakt zu Vyld aufgenommen. „Wir reden auch mit etablierten Playern, wenn diese mit uns reden wollen. Da sind wir völlig undogmatisch“, sagt Schiller und grinst. „Nur kaufen kann man uns nicht – Verantwortungseigentum!“

Dieser Artikel ist zuerst in Character erschienen, dem Gesellschaftsmagazin der Bethmann Bank. Auf unserer Webseite finden Sie mehr Informationen zur aktuellen Ausgabe.

Ähnliche Artikel