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Der virtuelle Blindenhund

Text von Sina Hoffmann
10.06.2024
Unternehmen

Cornel Amariei hat ein Unternehmen gegründet, das smarte Brillen für Blinde herstellt und den Trägern ein Stück Selbstständigkeit zurückgibt. Einkaufen gehen, wandern oder ein Besuch im Café soll damit für sie ohne weiteres möglich werden.

Sehbehinderte Menschen haben es schwer, sich im Alltag selbstständig zu bewegen. In vielen Situationen, zum Beispiel beim Einkaufen, stoßen sie an ihre Grenzen. Hier setzt die intelligente Technologie des Start-ups Dotlumen an: Mit der smarten Brille auf der Stirn kann sich zum Beispiel Andrea, von Geburt an blind, zum ersten Mal in ihrem Leben selbstständig im Supermarkt orientieren und einkaufen. Sechs Kameras und Mikrofone sammeln Informationen über die Umgebung, bestimmen ihre Position sowie die von Objekten. In einem YouTube-Video ist zu sehen, wie die Brille Andrea zuverlässig zwischen den Regalen entlang führt und ihr Impulse gibt, die sich wie das Vibrieren eines Smartphones anfühlen, wenn zum Beispiel ein Regal oder eine Person den Weg versperrt.

Smarte Technologien verbessern die Lebensqualität

Etwa 40 Millionen Menschen weltweit geht es wie Andrea: Sie bewegen sich blind durch ihre Umgebung. Obwohl sich im Bereich der assistierenden Technologien in den vergangenen Jahren dank Künstlicher Intelligenz (KI) viel getan hat, sind die meistgenutzten Hilfen immer noch der analoge Blindenstock oder der Blindenführhund – jahrhundertealte Methoden, die kaum ausreichend sind, um sich vollkommen selbstständig durch den Alltag zu bewegen. 

Cornel Amariei, der als Einziger seiner Familie ohne Beeinträchtigung lebt, machte sich schon während seines Studiums im Bereich Computertechnik und Ingenieurwissenschaften Gedanken darüber, wie er blinden Menschen helfen kann, sich besser zurecht zu finden. Als 2018 Technologien wie KI und Robotik weit genug entwickelt waren, kam er auf die Idee, Blinde mit einer smarten Brille auszurüsten. Daraus ging 2020 das Start-up Dotlumen hervor. Er ist überzeugt: „Unsere Technologie hat das Potenzial, die Inklusion maßgeblich voranzubringen und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.“

Die Technologie hinter der Brille ist mit der für autonomes Fahren vergleichbar.
Cornel Amariei, Dotlumen

Günstige und pflegeleichte Alternative zum Blindenhund gesucht 

Die smarte Brille soll die Vorteile eines Blindenhundes bieten und gleichzeitig erschwinglich für jeden Betroffenen sein. Dies ist beim Vierbeiner nicht der Fall, immerhin kostet seine Ausbildung in Deutschland bis zu 60.000 Euro und nicht jeder kann ein Tier unterbringen beziehungsweise versorgen. „Wie der Hund führt die Brille die blinde Person um Hindernisse herum – sie ist wie ein virtueller Blindenhund“, erklärt Amariei. 

Möglich macht das eine innovative Kombination aus Robotik und KI. „Die Technologie hinter der Brille ist mit der für autonomes Fahren vergleichbar. Nur, dass sie nicht ein Fahrzeug auf der Straße steuert, sondern der Person auf dem Bürgersteig oder im Geschäft Impulse gibt, wohin sie sich wenden soll“, erklärt Amariei. Die Brille nimmt die Umwelt in 3D wahr. Sie versteht, wo der Boden ist, welche Form und Neigung er hat, erkennt Hindernisse und wie schnell und in welche Richtung sich der Träger beziehungsweise Objekte in seinem Umfeld bewegen. 

Aber nur, weil etwas flach ist, zum Beispiel ein Gewässer, heißt das noch lange nicht, dass die Person auch darauf laufen sollte. Daher braucht es eine spezielle KI. Diese berechnet anhand der übertragenen Bilder mehr als hundertmal pro Sekunde, welche Oberflächen begehbar sind und welche nicht. Über Vibrationen oder über einen angeschlossenen Sprachassistenten erhält der Träger Feedback dazu, in welche Richtung er sich wenden muss, um zum Ziel zu gelangen. 

Weltweit einsetzbare Blindenbrille mit KI

Das Dotlumen-Team, das mittlerweile aus mehr als 50 Ingenieuren, Professoren, Behindertenexperten, Designern und Wissenschaftlern besteht, hat die Brille im Laufe der Entwicklung immer wieder an die Bedürfnisse der Tester angepasst, sodass ein leichtes und ergonomisches Produkt entstanden ist. Während der Prototyp noch mehr als ein Kilogramm wog, soll das fertige Produkt am Ende circa 850 Gramm auf die Waage bringen. Damit ist die KI-Brille für Blinde ähnlich schwer wie eine Virtual-Reality-Brille. Der Akku hält bis zu zwei Stunden bei aktiver Fortbewegung und kann unterwegs aufgeladen werden.

Die Blindenbrille ist nur das erste Produkt. Unsere Software kann, losgelöst von der Brille, noch für so viel mehr verwendet werden.
Cornel Amariei, Dotlumen

Mehr als 300 Personen aus verschiedenen Ländern im Alter von 18 bis 87 Jahren haben die Brille getestet. Bisher kann der Sprachassistent Anweisungen in 15 Sprachen geben. „Aber auch Personen, die diese Sprachen nicht sprechen, verstehen dank der Vibrationen sehr schnell, wie die Brille funktioniert und können sie intuitiv bedienen“, sagt Amariei.

Überrascht vom Erfolg

Für seine patentierte Technologie hat Dotlumen inzwischen zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Amariei selbst wurde als erster Rumäne in die Forbes-30-Under-30-Europaliste und in die Global Business Hall of Fame aufgenommen. Besonders stolz ist er darauf, dass sein Start-up 2021 die EU als Investor gewinnen konnte. Damit ist Dotlumen das erste rumänische Unternehmen, das vom Europäischen Innovationsrat gefördert wird – und zwar mit 9,7 Millionen Euro. Dass seine Geschäftsidee einmal so erfolgreich sein würde, hätte sich Amariei anfangs gar nicht vorstellen können. „Statistisch gesehen ergibt es keinen Sinn, dass es Dotlumen überhaupt gibt: Zum einen ist Rumänien nicht besonders gründerfreundlich, zum anderen bot ein Start im Jahr der Coronapandemie keine gute Ausgangsposition.“ 

Ende 2024 soll die Dotlumen-Brille in Europa in den Handel kommen. Gerade durchläuft sie einen aufwändigen Zertifizierungsprozess, der sie künftig als Medizinprodukt ausweisen soll. Ist dieser bestanden, kann die KI-Brille über Versicherungen und andere Bezuschussungen mehr Menschen gegen eine geringe Zuzahlung oder sogar kostenlos das Leben erleichtern. Für Selbstzahler rechnet Amariei mit einem Preis im mittleren bis oberen dreistelligen Bereich. Damit wäre die smarte Brille immer noch günstiger als ein Blindenhund. 

Im Anschluss will der Unternehmer bereits an der nächsten Version der Brille arbeiten, die länger hält, leichter und günstiger sein soll. Auch darüber hinaus hat der Rumäne große Pläne mit seiner innovativen Technologie: „Die Blindenbrille ist nur das erste Produkt. Unsere Software kann, losgelöst von der Brille, noch für so viel mehr verwendet werden.“ Zum Beispiel für Roboter, die Essensbestellungen oder Pakete ausliefern. Bis es so weit ist, kann es aber noch einige Zeit dauern.

558.725 Sehbehinderte
gibt es in Deutschland.
Quelle: Statistisches Bundesamt

2.000 Blindenhunde
gibt es in Deutschland.
Quelle: Stiftung Deutsche Schule für Blindenführhunde

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