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Ideen gegen den Paketmüll

Text von Stefan Weber
29.06.2023
Unternehmen

Online einzukaufen und sich Waren nach Hause liefern lassen ist bequem. Lästig wird es erst nach der Zustellung: Wohin mit den vielen Kartons? Das wird auch für die Umwelt ein immer größeres Problem. Höchste Zeit für mehr Nachhaltigkeit beim Paketversand.  

Ein gutes Beispiel sind Kontaktlinsen: Die winzigen Sehhilfen gehören zu den Produkten, die Verbraucher in Deutschland regelmäßig online bestellen und sich nach Hause liefern lassen. Die Verpackung? Höchst unterschiedlich. Mal steckt ein Monatsvorrat Kontaktlinsen in einer Versandtasche, die ohne Probleme in den Briefkasten passt; mal ist es eine Wochenmenge in einem übergroßen Paket mit reichlich Füllmaterial. Auch beim Transport von anderen Produkten ist häufig viel „Luft“ an Bord. Der Naturschutzbund Deutschland (NABU) zitiert Untersuchungen von Experten, wonach die von Onlinehändlern verschickten Pakete im Durchschnitt nur zur Hälfte befüllt sind.

Überdimensionierte Verpackungen verstärken ein Dilemma, das Onlinehändlern, Logistikern und allen, denen Nachhaltigkeit ein Anliegen ist, zunehmend Sorgen bereitet: den sinnvollen Umgang mit den riesigen Mengen Pappe und Karton, die nach der Zustellung ihren Zweck (vermeintlich für immer) erfüllt haben. Diese Müllberge werden immer größer, weil immer mehr Waren verschickt werden. Der Bundesverband Paket und Expresslogistik (BIEK) zählte 2021 in Deutschland mehr als 4,5 Milliarden Sendungen – ein Plus von etwa 400 Millionen gegenüber dem Vorjahr. Und 2022 waren es noch einmal mehr, wenngleich die Steigerungsrate nach ersten Schätzungen geringer ausfiel. Ein Ende dieses Trends ist nicht abzusehen. Für 2026 prognostiziert der BIEK rund 5,7 Milliarden Sendungen, die meisten von ihnen umhüllt von Kartonagen aus ein- oder mehrlagiger Wellpappe, die Paketempfänger gewöhnlich schnell in den Müll befördern.

Wer schafft es, einen Kreislauf für Verpackungen aufzubauen?

Diese Einwegpraxis ist ökologisch ärgerlich – wegen der schieren Menge des zu entsorgenden Abfalls, aber auch wegen des hohen Energie- und Rohstoffbedarfs bei der Produktion der nur kurz genutzten Verpackungen.

„Mehrwegverpackungen können dazu beitragen, dieses Problem zu lindern“, meint Leon Sternel. Er ist Gründer und Geschäftsführer von reBOX, einem jungen Unternehmen mit Sitz in Berlin, das ein Mehrwegversandsystem entwickelt hat. Kern dieses sogenannten reBOX-Modells sind robuste Versandboxen, die in Größe und Gestaltung an die Bedürfnisse verschiedener Onlinehändler angepasst werden können. Die innovativen Verpackungen lassen sich tracken – der Versandhändler kann also jederzeit nachvollziehen, wo sich die Boxen gerade befinden. „Sobald der Empfänger den Inhalt entnommen hat, sendet er die Box an den Händler zurück und sie kann für neue Lieferungen verwendet werden“, erläutert Leon Sternel.

Auch die Essener Jungunternehmer Matthias Thesing und Marc Diefenbach sind überzeugt, dass der Einwegkarton dringend von einer mehrfach zu nutzenden Versandverpackung abgelöst werden muss – aus Gründen des Umweltschutzes, aber auch aus ökonomischen Gesichtspunkten. „Wir glauben fest daran, dass wirtschaftlicher Erfolg in Zukunft nur funktioniert, wenn auch ökologische Aspekte berücksichtigt werden“, betonen die Gründer des Start-ups rhinopaq. Dessen Ziel ist es, ähnlich wie bei reBOX, einen Kreislauf für Verpackungen aufzubauen. Dazu haben Thesing und Diefenbach eine, wie sie hoffen, äußerst langlebige Mehrwegverpackung aus recyceltem Polypropylen entwickelt. Testläufe stimmen die Tüftler optimistisch. Ihre Verpackung ließ sich mehr als 20 Mal verwenden, bevor sie ausgemustert werden musste. Die Rücksendung des Mehrwegkartons ist denkbar einfach: zusammenfalten und ab in den nächsten Briefkasten.

Die Gründer Michelle Reed und Philip Bondulich aus Berlin setzen mit ihrem Modell zur Vermeidung von Paketmüll an einer anderen Stelle an – bei den Logistikern, deren Mitarbeitende täglich tausendfach Umverpackungen öffnen, Waren umsortieren und die ausgediente Kartonage in den Abfall befördern. „Bei manchen Logistikern fahren jeden Tag vier Sattelzüge mit Pappe vom Hof“, weiß Philip Bondulich. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seines Start-ups send me pack greifen die Verpackungen vor Ort ab, bereiten sie auf und stellen sie Versandhändlern und Onlineshops zur erneuten Verwendung zur Verfügung. Eine Win-win-Situation, wie Michelle Reed findet. „Die Logistiker sparen sich durch uns die Entsorgungskosten und die Onlinehändler können sich gegenüber ihren Kunden damit positionieren, dass sie wiederwendbares Versandmaterial einsetzen.“ Jeder aufbereitete Karton erhält einen Aufkleber mit QR-Code, über den Nutzer nachvollziehen können, in welchen Städten ihr Paket bereits war und wie viel Kohlendioxid durch die Wiederverwendung eingespart wurde.

Mehrweg wird nur eine Nischenlösung bleiben, sagen die Forscher

ReBOX, rhinopaq und send me pack sind nur drei Beispiele für junge Unternehmen, die mit Lösungen experimentieren, den Paketmüll zu reduzieren. Große, etablierte Logistiker wie DPD (Shuttle-Box) oder die österreichische Post (Grüne Verpackung) bieten zwar bereits seit einiger Zeit nachhaltige Mehrwegverpackungen an. Aber die Nachfrage danach ist bisher überschaubar. Ob sich das in Zukunft ändert? Sehr wahrscheinlich ja, meint Alien Mulyk, Nachhaltigkeitsexpertin beim Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland (bevh). Schließlich gewinne Nachhaltigkeit bei Kunden, Händlern und Logistikern immer mehr an Bedeutung. „Deshalb setzt E-Commerce aus ökologischen und ökonomischen Gründen zunehmend auf versandverpackungsarme Zustellung. Hinzu kommen immer genauere Zeitfenster für die Zustellung, die eine Übergabe von Produkten direkt an Kunden ohne oder mit nur geringer Verpackung zulassen“, so Alien Mulyk.

Eine Studie des IFH KÖLN, eines auf Handelsthemen spezialisierten Forschungsinstituts, kommt dagegen zu dem Schluss, dass Mehrwegsysteme im Versand auch mittelfristig eine Nischenlösung bleiben werden. Für ihre Untersuchung im Auftrag des Verbands der Wellpappen-Industrie (VDW) befragten die Forscher rund 1.000 Konsumenten zu ihren Präferenzen bei Verpackungen für Onlinebestellungen. Ergebnis: 55 Prozent der Verbraucher favorisierten Wellpappe, nur 22 Prozent sprachen sich für das Mehrwegprinzip aus. „Selbst Personen, die sich aktiv mit ökologischen Fragen auseinandersetzen, bewerteten Wellpappe positiver als der Rest der Befragten und standen Mehrweg skeptisch gegenüber“, betont Oliver Wolfrum, Geschäftsführer des VDW. Mehr als die Hälfte der umweltbewussten Personen habe das Konzept von Mehrwegverpackungen nur als mittelmäßig oder sogar als schlecht bewertet.

Kein gutes Zeugnis. Aber eines mit Potenzial. Damit Mehrweg funktioniert und an Ansehen gewinnt, sind die Anbieter in der Pflicht, nicht nur pfiffige Verpackungen zu entwickeln. Sie müssen auch eine Infrastruktur schaffen, die sicherstellt, dass die Pakete zurückkehren. Nachholbedarf besteht auch in der Kommunikation. Es gilt, das Bewusstsein zu schärfen, dass es ökologisch wichtig ist, Verpackungsmüll zu reduzieren. Wie das gelingt? Zum Beispiel durch mehr Transparenz: wenn Onlinebesteller, so wie in der Lösung von send me pack, an ihrer Sendung nachvollziehen können, wie viele Umläufe ihr Paket bereits hinter sich hat und wie viel CO2 durch die Mehrfachnutzung eingespart wurde. Nur darauf zu vertrauen, dass Konsumenten irgendwann von einem schlechten Gewissen geplagt werden oder genervt sind von überquellenden Mülltonnen und randvollen Papiercontainern, ist zu wenig. „Die allerbeste Verpackung“, so sagt Frank Düssler vom bevh, „ist jedoch gar keine Versandverpackung. Der Königsweg wäre deshalb, wenn Produktverpackungen künftig auch als Versandverpackungen dienen könnten.“

Wenn das gelingt, würde selbst eine Monatspackung Kontaktlinsen durch den dünnsten Briefkastenschlitz passen.

Dieser Artikel ist zuerst in Character erschienen, dem Gesellschaftsmagazin der Bethmann Bank. Auf unserer Webseite finden Sie mehr Informationen zur aktuellen Ausgabe.

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