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Umbauen statt abreißen

Text von Irene Preisinger
28.04.2023
Unternehmen

Auf seiner Einkaufsliste stehen Kaufhäuser, Baumärkte und neuerdings auch Kirchen: Timm Sassen macht mit der von ihm gegründeten Firma Greyfield ausgediente und abrissreife Gebäude wieder nutzbar. Der Architekt, Ingenieur und Ökonom will für ein Ende der Wegwerfmentalität beim Bauen sorgen. Anfangs wurde er als Freak belächelt, inzwischen gilt der 46-Jährige als ein Vorreiter für Immobilienprojekte mit ökologischem und sozialem Mehrwert. Beim Treffen in Essen, wo sein Unternehmen in einem fast 70 Jahre alten Haus sitzt, schwärmt er von der Langlebigkeit von Gebäuden sowie von den Chancen seiner Branche.

Herr Sassen, Sie kümmern sich mit Ihrer Firma Greyfield um alte Immobilien, die andere abreißen würden. Was reizt Sie am Altbau?

Das Faszinierende dabei ist, dass alles eigentlich schon da ist und dass man fast alles erhalten kann. Wir haben jedoch nicht gelernt, mit dem Bestehenden umzugehen, sondern versuchen immer, uns neue Dinge auszudenken. Das kann man bei allen Konsumgütern sehen, aber vor allem beim Bauen. Bauen ist, wenn man es richtig macht, eine generationsübergreifende Denkweise. Das hält eigentlich für die Ewigkeit. Wir verstehen aber nicht, dass eine alte Wand oder ein ganzes Haus stehen bleiben kann. Deshalb reden wir immer weiter über Abriss, Neubau, Ressourcen- und CO2-Verbrauch. Das funktioniert mit Blick auf unsere Nachhaltigkeitsziele nicht.

Architekten sind ausgebildet, so zu denken: Ich baue etwas, was ich mir vorstellen kann. Technisch kriege ich das hin, und wenn es ein 1.000 Meter hoher Turm ist. Es ist ganz, ganz wichtig, dass wir anfangen, umzudenken: Wir bauen nicht, was wir uns vorstellen können, sondern wir bauen nach Verfügbarkeit. Welche Räume gibt es? Welche Flächen? Welche Materialien sind schon da? Damit müssen wir eine neue Kreativität entwickeln. Das ist die größte Herausforderung, die wir haben, aber es macht auch irre Spaß, mit dem Bestehenden etwas Neues zu verwirklichen.

Sie wohnen auch in einem Altbau. Was macht für Sie privat den Charme alter Gebäude aus?

Das Gleiche wie beruflich: die Geschichte dahinter und das Bestehende wertzuschätzen. Man weiß, das hat damals gut funktioniert und funktioniert immer noch gut. Ich liebe es einfach. Lowtech ist oft besser als Hightech. Auch im Privaten versuche ich, mir bei allen Themen zu überlegen: Kann nicht das Bestehende noch funktionieren? Kann ich das wieder reparieren? Und bei Dingen, die man doch neu machen will oder muss: Kann man sie langfristig nutzen? Das ist intrinsisch in mir drin.

Im Bauwesen sind wir verantwortlich für Städte, Räume und die darin lebenden Menschen. Und wir sind der größte Emittent von CO2, der größte Ressourcenverbraucher und auch noch der größte Abfallverursacher.
Timm Sassen, Greyfield

Woher kommt dieses Denken?

Keine Ahnung. Vielleicht von meinen Großeltern, die – wie alle Großeltern – eine andere Generation sind. Sie haben durch Erfahrung und aus Not gelernt, dass man Bestehendes eher repariert als wegschmeißt, dass man mit dem zurechtkommt, was man nach dem Zweiten Weltkrieg vorgefunden hat. Das haben unsere Generation und auch meine Elterngeneration nie lernen müssen. Und weil Ressourcen knapp sind, glaube ich, dass es in Zukunft ähnlich sein wird wie damals. Wir werden mit dem Bestehenden zurechtkommen müssen. Das gilt vor allem auch, wenn wir überlegen, wie wir unsere klimapolitischen Ziele erreichen können.

Im Bauwesen sind wir verantwortlich für Städte, Räume und die darin lebenden Menschen. Und wir sind der größte Emittent von CO2, der größte Ressourcenverbraucher und auch noch der größte Abfallverursacher. Hier gibt es ordentlich was zu verbessern. Das hat die Branche verpennt. Mich fasziniert es umso mehr, eine Riesenchance zu haben, wirklich etwas bewegen zu können.

Wo finden Sie Bestandsbauten, die für Ihr Unternehmen attraktiv sind? Oder finden die Objekte Sie?

Sowohl als auch. Deutschlandweit bekommen wir viele Objekte angeboten. Städte wenden sich an uns mit Problemen aus alten Brachen, die nicht gelöst sind. Aber genauso finden wir auch selbst Objekte. Wir sitzen ja in Essen im Ruhrgebiet, das ist der größte Ballungsraum in Deutschland. Wir haben hier die meisten Menschen und ganz viel Historie. Man muss nicht suchen, sondern einfach vor die Tür gehen. Da findet man ganz viel Bestand.

Uns ist nicht wichtig, den besonderen Bestand zu entwickeln. Wir müssen die profanen, einfachen Dinge anfassen: die 1970er-Jahre-Bürogebäude, 1960er-Jahre-Schulen, alte Wohngebäude, die wir alle jeden Tag links liegen lassen, die große Masse. Deutschland ist fertig bebaut – das ist unser Leitgedanke. Wir gehen nicht in Investmentmärkte, wir gehen dahin, wo Menschen leben. Alle Immobilieninvestoren tummeln sich in den Top-7-Städten (Berlin, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, München, Stuttgart – Anm. d. Red.). Da machen wir nicht mit.

Welche ungewöhnlichen Immobilien sind Ihnen bisher untergekommen, bei denen Sie überlegt haben, sie zu kaufen?

Es kribbelt uns immer. Wir machen das Profane gerne. Aber je spezieller ein Projekt ist, desto mehr schlägt unser Herz dafür. Aktuell haben wir einen Blick auf alte Kirchen geworfen, weil immer mehr die ursprüngliche Nutzung abhandenkommt. Es ist kein Bedarf mehr da. Eine Kirche hat eine ganz spezielle DNA. Als Ort wurde meistens der Kern eines Zentrums gewählt. Die Bauweise ist sehr massiv, für die Ewigkeit. Darüber hinaus prüfen wir unter anderem einen alten Schlachthof. Normalerweise werden solche Dinger abgerissen, obwohl sie bautechnisch keinen Schaden haben.

Was kostet denn eine alte Kirche?

Das ist immer eine Frage von Wert. Immobilienleute gucken immer nach dem Ertrag, im privaten Gebrauch manchmal auch nach dem Sachwert. Wie viel kommt herein? Und was kostet das? So rechnet die Branche. Dann ist die Frage: Was ist eine Kirche wert? Da gibt es ja keine Miete. Man muss überlegen: Was ist eigentlich das Kerngeschäft, der Zweck einer Kirche gewesen? Die Antwort ist: Seelsorge. Das ist verdammt schwer zu bewerten, weil man nicht Schicksale aufwiegen kann. Natürlich gibt es einen Substanzwert, einen Sachwert, weil Steine, Beton oder Ziegel etwas gekostet haben. Aber das ist eigentlich nicht der Wert der Kirche. Langer Rede kurzer Sinn: Es kann von einem negativen Wert bis zu einem exorbitant hohen Gebäudewert alles drin sein.

In den Innenstädten stehen außer Kirchen oft große Kaufhäuser, die in der Coronazeit nochmals stark gelitten haben. Gleichzeitig hat sich das Homeoffice etabliert. Was bedeutet das aus Ihrer Sicht für die Entwicklung von Innenstädten?

Städte verändern sich – schon immer. Das finde ich positiv. Unsere Bedürfnisse, zum Beispiel das, ins Homeoffice wechseln zu können, ändern sich. Damit ändert sich auch der Nutzungszweck von vielen Gebäuden. Das ist nicht schlimm. Lassen Sie uns doch aus Bürogebäuden Wohngebäude machen oder Lagergebäude. In den Ruhrgebietsstädten Essen oder Dortmund, wo ich herkomme, haben wir ganz große Einkaufsstraßen mit vielen Handelsimmobilien. Das entspricht den heutigen Bedürfnissen nicht und bietet auch keine Aufenthaltsqualität mehr. Beide Städte haben ungefähr je 600.000 Einwohner. Viele wollen gern in der Stadt wohnen, weil es unter anderem eine tolle Infrastruktur gibt. Also müssen wir sowohl Bürogebäude als auch Handelslagen transformieren in Richtung Wohnen oder zum Beispiel betreutes Wohnen. Da hat jede Stadt eigene Bedürfnisse. Ich plädiere dafür, nicht in reinen Wohngebäuden zu denken, sondern in Mischnutzung.

Als Sie 2012 Ihr Unternehmen gegründet haben, war Bestandsentwicklung in der Immobilienbranche eher exotisch. Was hat Sie damals bewogen, umzusatteln und es anders zu machen?

Ich bin als Architekt bei der IKB Bank eingestiegen und durfte mir viele Immobilienfinanzierungen angucken. Da habe ich ein Faible für das Bestehende, das Alte, das Kaputte entwickelt. Nach einer ökonomischen Weiterbildung war ich Consultant und habe große Konzerne und mittelständische Unternehmen beraten. Irgendwann saß man nur noch in Konferenzräumen und hat tolle Reden gehalten, aber nichts verändert. Mir geht es aber darum, die Welt ein Stück weit besser zu machen. Zum MBA-Studium war ich unter anderem in den USA und habe gesehen, dass sich die gesamte Immobilienwelt nur um Neubau dreht und das Bestehende vergessen wird. Das war der Antrieb für mich, zu sagen: Das kann doch nicht sein. Ich gründe ein Unternehmen, das sich nur um Bestand kümmert, um Redevelopment.

Bei der Gründung vor elf Jahren wurde ich vielleicht als Freak gesehen. Jetzt sind wir Vorreiter.

Wie kamen Sie auf den Namen Greyfield?

Diesen Begriff haben die Angelsachsen geprägt: Wenn man von oben auf die Erde schaut, gibt es Greenfields, also grüne Wiesen, Brownfields, sprich Gewerbeflächen, und Greyfields. Das ist gebauter Beton von oben, also Shoppingcenter oder Bürogebäude, die leer stehen und in denen keiner eine Zukunft sieht.

Bei der Gründung vor elf Jahren wurde ich vielleicht als Freak gesehen. Jetzt sind wir Vorreiter. Die Branche hat gemerkt: Wir müssen in den Bestand gehen. Das ist nachhaltig, weil wir keine Ressourcen verbrauchen und CO2 sparen. Und in den letzten zwei Jahren ist die Einsicht dazugekommen, dass wir in der Immobilienbranche auch eine soziale Verantwortung haben.

Gab es einen Moment, in dem der Wind gedreht hat?

Das war eher eine langsame Entwicklung. Ich habe gemerkt, dass ich Aufklärungsarbeit leisten muss. Deswegen machen wir auch so viel in Verbänden oder an Universitäten. Wir zeigen, was der Vorteil des Bestehenden ist. Wir haben Leitfäden geschrieben, Empfehlungen, wie man Risiken minimiert. Wenn ich ein Projekt gut analysiere, habe ich viel weniger Risiken als im Neubau. Inzwischen sind das Ökologische und das Soziale relevant in der Immobilienbranche. Wir freuen uns sehr darüber, dass der Rückenwind kommt.

In der Baubranche herrscht im Moment Krisenstimmung. Material und Energie sind teurer, die Zinsen höher, Personal ist knapp. Spielt Ihnen das in die Hände?

Uns ist doch allen klar, was wir tun müssen: Wir müssen weniger Ressourcen verbrauchen, wir müssen CO2 einsparen. Also sollten wir Gebäude nicht abreißen, sondern das Bestehende nutzen und sanieren. Machen wir aber nicht. Da spielt es uns natürlich enorm in die Karten, dass bei konventionellen Konsumneubauten gerade die Tür zugeht. Man kriegt auch gar nicht die Flächen dafür. Das gilt genauso für das politische Ziel, 400.000 neue Wohnungen im Jahr zu bauen. Wir haben weder ausreichend Grundstücke noch Baumaterialien, Leute oder Finanzierung. Wir müssen mehr Wohnraum schaffen und nicht mehr Wohnraum bauen. Das ist ein Unterschied.

Auch die Baubranche klagt über Fachkräftemangel. Wie ist das bei Greyfield?

Vielleicht klingt das arrogant, aber Fachkräftemangel kennen wir nicht. Wir bieten sinnstiftende Arbeit. Wir bekommen im Schnitt zwei Initiativbewerbungen pro Tag. Die besten Leute der Branche wollen mit uns arbeiten. Und die besten Leute sind übrigens nicht immer die mit den besten Noten, auch nicht die in Karrierenetzwerken und -portalen. Das sind vielleicht eher die, die beispielsweise bei „Fridays for Future“ mitmarschieren und sich engagieren.

Sie machen in der Mitarbeiterführung vieles anders. Wie muss man sich das vorstellen?

Bei uns im Team sind Freiheit und Verantwortung das oberste Gut. Unser Arbeitsvertrag zum Beispiel passt auf eine Seite. Da steht nicht viel drin. Ein Gehalt – nur Fixgehalt, kein Bonus, weil wir das nicht als die richtige Motivation empfinden. Und es steht drin, dass man arbeiten kann, wann und wo man will. Urlaub gibt es nach Bedarf. Wir haben keine Stechuhr, keine Kontrollen. Das ist enorm riskant, weil die Mitarbeiter nicht nur die Freiheit leben, sondern auch die Verantwortung wertschätzen müssen. Das Ergebnis zählt, das Projekt. Und wir müssen als Team funktionieren.

Das Leben muss kombinierbar sein mit der Arbeit. Ich selbst habe drei Kinder und drei Hunde. Ich habe natürlich auch entsprechende Verpflichtungen und muss mich um sie kümmern. So hat jeder Einzelne unterschiedliche berufliche und private Herausforderungen.

Wir kommen darüber hinaus ohne Hierarchien aus. Als Unternehmen müssen wir natürlich eine Geschäftsführung haben. Meine Geschäftsführerkollegin und ich empfinden uns als Spielertrainer, das heißt, wir arbeiten an Projekten mit und sind gleichzeitig Trainer. Ansonsten haben wir keine Hierarchie. Wir sind ein Team aus 17 Leuten.

Haben Sie mit diesem Führungsstil schon mal schlechte Erfahrungen gemacht?

Ja, natürlich. Ein freies System kann auch ausgenutzt werden. Wenn man arbeiten kann, wann und wo man will, und nicht für die Sache brennt, kann man mehr die Freiheit genießen als die Verantwortung wahrnehmen. Der oder die schadet dann dem gesamten Team. Bei einem Mitarbeiter kann man das aushalten, aber wenn es vier oder fünf werden, muss man aufpassen. Wir müssen alle an einem Strang ziehen. Und wir haben es geschafft, dass jeder im Team diese Verantwortung annimmt.

Sie sind Unternehmer, unterrichten an Hochschulen und sind in der Verbandsarbeit aktiv. Bleibt da noch Freizeit übrig?

Ja, ich versuche, das bestmöglich unterzukriegen. Meine Freizeit widme ich natürlich der Familie. Meine Tochter ist sieben Jahre und meine Jungs, Zwillinge, sind fünf. Die Zeit ist knapp, und die verbringe ich mit meinen Kindern. Da habe ich momentan wenig Zeit, mich noch mit meinen Hobbys zu beschäftigen. Außerdem habe ich ja mein Hobby zum Beruf gemacht.

Zur Person:
Timm Sassens Herz schlägt für das Ruhrgebiet. Er wird 1977 in Dortmund geboren, studiert Architektur und Immobilienmanagement im In- und Ausland. Nach Stationen als Projektleiter Immobilien bei der IKB Deutsche Industriebank AG und als Berater bei KPMG gründet er im April 2012 seine eigene Firma: Greyfield. Sitz: Essen, mitten im Ruhrgebiet. Dafür, bestehende Gebäude zu nutzen statt abzureißen, plädiert er auch, wenn er in der Verbandsarbeit aktiv ist oder an Hochschulen unterrichtet. So engagiert er sich im VDI Verein Deutscher Ingenieure und ist unter anderem Lehrbeauftragter an der TH Köln.
Sassen ist verheiratet und hat drei Kinder. Mit seiner deutsch-schwedischen Familie lebt er im Ruhrgebiet, natürlich in einem Altbau.

Dieser Artikel ist zuerst in Character erschienen, dem Gesellschaftsmagazin der Bethmann Bank. Auf unserer Webseite finden Sie mehr Informationen zur aktuellen Ausgabe.

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