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Erst Bauer, dann Windradbauer

Text von Johanna Stein
24.04.2023
Nachhaltigkeit

Dirk Ketelsen hat seinen Bauernhof um den größten Bürgerwindpark Deutschlands erweitert. So fließt nicht nur Strom, sondern auch Geld nach Nordfriesland.

Fast 90 Windräder stehen rund um Reußenköge und produzieren circa 900 Millionen Kilowattstunden Strom. Mit der Menge ließen sich mehr als 250.000 Vier-Personen-Haushalte versorgen – weit mehr als die nordfriesische Gemeinde benötigt, die gerade einmal 320 Einwohner zählt. Doch das ist noch nicht die einzige Besonderheit. Bemerkenswert ist auch, dass die Windräder den Anwohnern gehören – damit ist der Windpark weltweit einer der größten in Bürgerhand.

Kein Gegenwind aus der Bevölkerung

Möglich wurde dies, als die Bundesregierung im Jahr 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetz verabschiedete. Es versprach Betreibern von Windkraftanlagen eine feste Einspeisevergütung. Immer mehr Bauern in Nordfriesland errichteten eigene Windräder. Allen voran: Dirk Ketelsen, der einen zertifizierten Bio-Bauernhof in dritter Generation bewirtschaftet. Er stellte vor 33 Jahren das erste Windrad auf dem Dirkshof auf, um grünen Strom für den Betrieb zu produzieren. Im Laufe der Zeit entstanden so rund um Reußenköge sechs Windparks, die sich im Jahr 2015 zum Bürgerwindpark (BWP) Reußenköge zusammenschlossen.

Dessen Betreiber ist die Gesellschaft BWP Reußenköge. Fast alle Einwohner der Gemeinde sind am Unternehmen beteiligt. „Ich schätze den Anteil an Investoren in der hiesigen Bevölkerung auf etwa 90 Prozent”, sagt Bürgermeister Dirk Albrecht.

Die Einwohner wurden bei jeder Ausbaustufe des Windkraftprojekts gefragt, ob sie sich beteiligen wollen. Immerhin: Wer sein Land an Windradbetreiber verpachtet, erhält rund fünf Prozent des Ertrags. Und wer einen Anteil an der Gesellschaft hält, kann je nach Investmenthöhe einige Hundert bis mehrere Tausend Euro pro Monat verdienen. „Das Geschäft ist sehr auskömmlich“, sagt Bio-Landwirt Dirk Ketelsen, der vor 33 Jahren mit dem ersten Windrad zur grünen Stromversorgung seines Hofs den Anstoß gab. Die finanzielle Beteiligung der Bürger stellt zudem ihre Zustimmung sicher. „Es ist eine gute Einkommensquelle, durch die man keinen Aufwand hat“, erzählte beispielsweise ein Landwirt aus Reußenköge dem „Focus“-Magazin. Und obwohl inzwischen 88 Windräder in der Region stehen, die teilweise nur 400 Meter Abstand zu den Höfen halten, gab es bis heute keinen Gegenwind aus der Bevölkerung. „Kritik kommt eher von außerhalb”, erklärt Bürgermeister Albrecht. Seine Einschätzung: „Manche Leute sind neidisch, dass wir hier so viel Geld verdienen.”

Wohlstand durch Windenergie

Die Einnahmequelle ist für viele Bauern in der Region essenziell: „Ohne das zusätzliche Geld hätten einige Landwirte ihre Höfe früher oder später aufgeben müssen”, erklärt Albrecht. „Sie sind also nicht trotz, sondern gerade wegen der Windräder hier geblieben.” Auch die Gemeinde profitiert: Mit den zusätzlichen Gewerbesteuereinnahmen konnte sie bereits viele Projekte finanzieren, etwa Kinderspielplätze, ein eigenes Kindergeld und Radwege.

Landwirt Ketelsen erntet bis heute Lebensmittel von seinem 150 Hektar großen Hof: Möhren, Bohnen, Erbsen, Weizen und anderes Getreide. Doch auch seine Haupteinnahmequelle ist inzwischen die Windkraft. Hierfür beschäftigt er 35 Mitarbeitende, darunter Windkraftspezialisten und Ingenieure. Einer von ihnen ist Henning Boysen, der auf dem Dirkshof für die Planung und Projektierung des Windparks zuständig ist. „Mir gefällt der Gedanke, dass das Land sich mit selbst produziertem Strom von den Öl- und Marktpreisen unabhängig machen kann”, erzählt er.

Projekte auf der ganzen Welt

Und das Projekt in Nordfriesland ist nur eines von vielen. Denn die Dirkshof-Mitarbeitenden verwalten Windparks auf der ganzen Welt – ganz bequem zum Großteil von Deutschland aus über das Internet. So hat das Unternehmen bereits verschiedene Projekte in Frankreich umgesetzt und geholfen, Windparks zu planen, zu bauen oder Investoren zu finden. Im Jahr 2020 hat der Dirkshof sogar eine Niederlassung in Istanbul eröffnet, um einen Windpark am Schwarzen Meer zu bauen.

Erst vor wenigen Monaten haben die Norddeutschen den Windanlagenhersteller Vestas beauftragt, ein Projekt in Estland umzusetzen: 15 Windräder werden nun in der Gemeinde Luganuse im Nordosten Estlands aufgestellt. „Wir fühlen uns geehrt, die Partnerschaft mit dem Dirkshof fortzusetzen“, erklärt Juan Furones, der bei Vestas für die Region Nord- und Mitteleuropa zuständig ist.

Autarkie ist das Ziel

Da der Dirkshof die Windräder in seinen Parks regelmäßig austauscht, um effizientere Modelle zu installieren, mustert Ketelsen auch viele Altanlagen aus. Diese sind oft noch funktionstüchtig und das Unternehmen verkauft sie an Abnehmer auf der ganzen Welt weiter, zum Beispiel in Osteuropa, Afrika oder Asien. Auf diesem Weg hat der Dirkshof bereits hunderte Anlagen in einen neuen, zweiten Markt überführt. Für ein Projekt in Gambia stifteten die Norddeutschen sogar eine kleine Altanlage, sodass sich seitdem ein afrikanisches Dorf zu 100 Prozent selbst mit Strom versorgen kann.

Autarkie strebt auch die Gemeinde Reußenköge an. „Dafür wollen wir den Strom veredeln“, erklärt Ketelsen. Das kann mithilfe von Wasserstoff gelingen, einem Energieträger, der bei der Zugabe von Strom in einem chemischen Prozess entsteht. Grüner Wasserstoff soll die Energiewende in Deutschland vorantreiben, weshalb die Reußenköger mit ihrem Windstrom künftig Wasserstoff produzieren und verkaufen wollen – zum Beispiel an Wasserstoff-Tankstellen in der Umgebung. Das Ziel: die Wirtschaft in der Region stärken. Damit das funktioniert, wollen die Einwohner eine neue Gesellschaft gründen, die das Netz künftig betreibt – und die Gemeinde an der Nordsee noch ein Stückchen grüner macht.

300 Megawatt
beträgt die Gesamtleistung des Bürgerwindparks Reußenköge.
Quelle: Dirkshof

115 Gigawatt
Windenergie will die Bundesregierung bis zum Jahr 2030 in Deutschland installieren.
Quelle: Umweltbundesamt

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